Medizin:Ärzte bringen Kind von toter Frau zur Welt

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Eine medizinische Meisterleistung oder schlicht Größenwahn? In Ungarn entbinden Ärzte per Kaiserschnitt ein Baby - drei Monate nach dem Hirntod der Mutter. Das riskante Unterfangen erinnert an einen deutschen Fall, der damals scheiterte.

Von Christina Berndt

Als das zarte Kind geboren wurde, war seine Mutter bereits seit drei Monaten tot. Per Kaiserschnitt holten Ärzte im Klinikum der ungarischen Universität Debrecen das Baby aus dem Bauch seiner Mutter, die zu diesem Zeitpunkt nur noch die Hülle ihrer selbst war. Ihr Gehirn war längst abgestorben; die Körperfunktionen hielten die Ärzte nur deshalb aufrecht, damit das Kind in ihrem Leib eine Chance auf Leben hat.

Im Juli 2013 bereits ereignete sich diese Geburt aus dem Sterben heraus. Bekannt gegeben aber haben die ungarischen Mediziner um Bela Fülesdi sie erst jetzt. Sie wollten sichergehen, dass es das Kind schafft. Immerhin wog das Kleine nur 1420 Gramm, als es in der 27. Schwangerschaftswoche zur Welt kam.

Im Frühling war seine 31-jährige Mutter plötzlich nach einem Schlaganfall zusammengesackt. Als man sie entdeckte, war ihr Gehirn bereits abgestorben. Die Ärzte konnten nur noch den Hirntod feststellen. Gemeinsam mit den Eltern der Frau standen sie vor einer schwierigen Entscheidung. Was können sie und was dürfen sie tun? Sollen sie den Embryo sterben lassen oder sollen sie das unmöglich Erscheinende versuchen? Sie entschieden sich für Letzteres: Sie wollten wenigstens eines der beiden Leben retten, das der Schlaganfall in den Tod zu reißen drohte. "Der Embryo lebte nicht nur, er bewegte sich auch munter", erinnert sich Fülesdi.

Bei hirntoten Menschen sind alle Hirnfunktionen ausgefallen. Das Herz aber kann weiterschlagen, wenn diese Menschen beatmet werden, und so lange bestehen auch viele Körperfunktionen fort. Deshalb kritisieren manche Ethiker die Gleichsetzung von Tod und Hirntod. Sie fordern, Hirntote als "irreversibel Sterbende" zu bezeichnen. Denn die Rückkehr ins Leben gilt zu diesem Zeitpunkt als unmöglich. Der Sterbeprozess ist schon so weit fortgeschritten, dass selbst bei Beatmung oft die Stoffwechselprozesse erlöschen. Das Herz der 31-jährigen Ungarin aber schlug weiter, weiter und weiter. Zwölf Wochen lang.

Gymnastik zu Vivaldi-Klängen

Und das Baby wuchs. In dieser Zeit sprachen der Vater und die Großmütter oft mit dem Ungeborenen; das Radio habe immer gespielt, sagt Füseldi, damit der Embryo Stimmen und Musik höre. Es sei ein "unfassbarer Moment" gewesen, als das Baby dann zur Welt kam und weinte.

Der Fall erinnert an das "Erlanger Baby", das im Jahr 1992 republikweit für hitzige Debatten sorgte. Damals versuchten Ärzte der fränkischen Universitätsklinik das erst 15 Wochen alte Ungeborene einer 18-jährigen Hirntoten zu retten, die bei einem Autounfall schwere Schädelverletzungen erlitten hatte. Das medizinische Personal mühte sich redlich: Krankenschwestern machten mit der Frau zu Vivaldi-Klängen Gymnastik und hielten die Großeltern an, mit dem Kind zu sprechen. Immer wieder traten medizinische Probleme auf. So musste der Frau ein Auge entfernt werden, das sich entzündet hatte. Nach 40 Tagen aber nützten alle Mühen nichts mehr. Die hirntote Frau erlitt eine Fehlgeburt.

Die Feministin Alice Schwarzer zeigte sich damals "erleichtert, dass die Natur dieses zynische Experiment selbst abgebrochen hat". Es habe den "Größenwahn der Männermedizin" verdeutlicht. Die Grünen hatten gewettert, die Frau werde zum "biologischen Brutkasten degradiert". Strafrechtler jedoch argumentierten, das Kind habe ein Recht auf Leben.

Im Jahr 2008 gerieten die Ärzte in Erlangen erneut in eine ähnliche Situation. Ausgerechnet am Heiligabend habe er einen Anruf aus einem kleineren Krankenhaus erhalten, erinnert sich der Direktor der Universitätsfrauenklinik, Matthias Beckmann, im Gespräch mit der SZ. Von dort wollte man eine Schwangere, die wegen einer Hirnschädigung im Wachkoma lag, in die Uniklinik verlegen. "Das Nächste, was ich tat, war: unseren Ethiker und unseren Anästhesisten zu kontaktieren", erzählt Beckmann. Gemeinsam entschieden sich die Fachleute, alles für das Kind tun zu wollen. Alle zwei Wochen stellten sie ihre Entscheidung erneut auf den Prüfstand.

Weltweit 30 ähnliche Fälle

Damit unterschied sich das Vorgehen deutlich von 1992, als Ethiker nicht einbezogen wurden. Auch einen anderen Fehler vermieden die Erlanger diesmal: Sie brachten die Angehörigen nicht gegen sich auf - und so erfuhr die Öffentlichkeit nichts von der ungewöhnlichen Schwangerschaft. Das gesamte Team wurde aufs Stillschweigen eingeschworen. Der Vater des Kindes, beruflich stark eingespannt und mit zwei größeren Kindern bereits überlastet, kümmerte sich zwar nicht um seinen ungeborenen Nachwuchs. Aber er hatte auch nichts gegen die Bemühungen der Ärzte einzuwenden. 1992 waren die Großeltern des Ungeborenen dagegen schlecht auf das vorbereitet worden, was mit ihrer Tochter geschah. In ihrer Wut und Trauer wandten sie sich schließlich an die Bild-Zeitung.

Der Notfall vom Heiligabend nahm ein gutes Ende. 22 Wochen blieb die Schwangerschaft im Wachkoma bestehen - so lange, dass der gesunde Junge, der im Sommer 2009 auf die Welt geholt wurde, nicht einmal mehr ein Frühchen war. Er wurde ebenso wie seine Geschwister zur Adoption freigegeben. "Wir hätten dem Kind auch gegen den Willen des Vaters eine Chance gegeben", erzählt Beckmann. Hat er sich mit solchen eingreifenden Maßnahmen an einer Frau im Koma nicht zum Herrn über Leben und Tod aufgespielt, wie Alice Schwarzer dies seinen Kollegen 1992 vorwarf? "Herr über Leben und Tod, ja, das waren wir gewiss", sagt Beckmann. "Aber das ist unsere ärztliche Rolle. Wir haben uns nicht dazu aufgespielt, sondern für das Kind Partei ergriffen."

Weltweit sind inzwischen mehr als 30 Kinder unter ähnlichen Umständen geboren, das erste bereits 1987 in den USA. Von der Öffentlichkeit unbemerkt, hatte es auch in Deutschland schon vor dem "Erlanger Baby" einen ähnlichen Fall gegeben: 1991 kam bei Stuttgart Max Siegel als Sohn einer Frau zur Welt, die vermutlich hirntot war. Ein Problem sei das für ihn nie gewesen, erzählte der junge Mann vor zwei Jahren dem Spiegel: Seinen Schulfreunden habe er immer gesagt, er sei "aus einer Leiche geboren. Dann haben die anderen gefragt: ,Wirklich, geht das?' Ich habe es erklärt. Dann haben sie nie mehr gefragt."

© SZ vom 15.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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