Transplantations-Skandal an Uni-Klinikum:Leber im Angebot

"Der schlimmste Vorfall in der deutschen Transplantationsmedizin": Am Göttinger Universitätsklinikum wurden offenbar in großem Stil Krankenunterlagen gefälscht. Dadurch bekamen ausgewählte Patienten bevorzugt Spenderorgane zugeteilt. Nach SZ-Informationen geht es um mehr als zwei Dutzend Fälle. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Christina Berndt

Die Sitzung war streng geheim. Fünf Wachleute stellten sicher, dass nur eingetragene Mitglieder der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG) in Saal 7 des Internationalen Congresscentrums in Berlin eingelassen wurden. Was dann am Montag dieser Woche hinter verschlossenen Türen besprochen wurde, dürfte sich nun zum größten Betrugsfall in der Geschichte der deutschen Transplantationsmedizin ausweiten. Am Göttinger Universitätsklinikum wurden in den vergangenen zwei Jahren offenbar in großem Stil Krankendaten gefälscht. Ausgewählte Patienten bekamen bevorzugt Spenderorgane.

A heart surgery operation led by Professor Pirk is reflected in the glasses of doctor Urban at the IKEM in Prague

(Symbolbild) Wurden im Klinikum Göttingen immer die richtigen Patienten in den Operationssaal geschoben? Oder hatten hier jene Vortritt, die für ein Spenderorgan bezahlen konnten?

(Foto: REUTERS)

Er selbst sei fassungslos, erklärte der Strafrechtsprofessor Hans Lilie von der Universität Halle vor den Sitzungsteilnehmern in Berlin. In seiner Funktion als Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation, die bei der Bundesärztekammer angesiedelt ist, berichtete er wie jedes Jahr von Fällen, die von den Kontrollgremien des Organspendewesens untersucht werden. Am Montagabend ging es um den Stand der Ermittlungen in der "Causa Göttingen".

Bereits bekannt war, dass dort ein Oberarzt einem russischen Patienten, der in Deutschland keinen Anspruch auf ein Organ hatte, eine Spenderleber verschafft hatte. Dazu hatte der Mediziner nach derzeitigem Ermittlungsstand Protokolle gefälscht (SZ vom 16. Juni). Doch die Affäre hat wohl eine viel größere Dimension.

Es sei der schlimmste Vorfall, von dem er in der deutschen Transplantationsmedizin je gehört habe, sagte Lilie in einer Rede, die Teilnehmer als "sehr emotional" schildern. In Göttingen seien nicht nur für diesen einen Patienten Protokolle gefälscht worden. Es gehe um zahlreiche weitere Fälle. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung sind es schon jetzt mindestens 25 - und noch sind nicht alle Akten ausgewertet. Nachdem in Göttingen zuletzt rund 50 Lebern pro Jahr transplantiert wurden, scheint die Verschiebung von Organen an der Universitätsklinik beinahe üblich gewesen zu sein.

Ausgerechnet in einer Zeit, da ein neues Transplantationsgesetz die Bereitschaft der Bürger zur Organspende erhöhen soll, wird das Vertrauen nun massiv erschüttert. Früher, sagt Hans Lilie, habe er Spendewilligen oder Angehörigen voller Überzeugung versichern können, dass in Deutschland in Sachen Organspende alles mit rechten Dingen zugehe. Das könne er nicht mehr ohne Weiteres tun.

Leberkranken eine Nierenschwäche angedichtet

Die Tricks, die in Göttingen angewendet wurden, wirken erschreckend simpel: Der verantwortliche Arzt machte Patienten auf dem Papier kränker, als sie waren. Damit rückten sie auf der Warteliste nach oben und bekamen von der internationalen Vermittlungsstelle Eurotransplant, in der Deutschland und sieben weitere europäische Länder zusammengeschlossen sind, bevorzugt ein Spenderorgan zugeteilt.

Länger als nötig mussten jene Patienten warten, die eigentlich an der Reihe gewesen wären. Ob sie noch rechtzeitig ein Organ erhalten haben oder manche der Benachteiligten infolge eines ausgebliebenen Spenderorgans sogar gestorben sind, sei Gegenstand weiterer Ermittlungen, sagt Lilie auf Anfrage. Das sei allerdings schwierig nachzuweisen, ergänzt Axel Rahmel, Medizinischer Direktor von Eurotransplant. Letztlich lasse sich kaum sagen, ob ein Patient, der auf der Warteliste stirbt, noch rechtzeitig ein Spenderorgan erhalten hätte. Schwer überschaubar werde die Angelegenheit auch, weil sich die Verzögerung der Organspenden innerhalb der Liste fortsetzt. "Womöglich hat das längere Warten die Patienten eins bis 14 nicht beeinträchtigt, wohl aber Patient 15."

Der Göttinger Oberarzt soll Patientenakten auf mehreren Wegen manipuliert haben: Zu den beliebtesten Methoden gehörte es, Leberkranken auch noch Nierenprobleme anzudichten, weshalb diese auf Dialysen angewiesen seien. Gefälscht wurden aber auch Laborwerte wie die Blutgerinnungsneigung und der Kreatininwert, welcher ebenfalls ein Indikator für den Zustand der Nieren ist. Weil Leber und Niere beide für die Entgiftung des Körpers verantwortlich sind, ergeht es Leberkranken noch schlechter, wenn auch noch die Nieren versagen. Dumm nur, dass mitunter vergessen wurde, mit dem Kreatininwert auch den Harnstoffwert anzuheben. Beide Werte sind physiologisch gekoppelt. Oft stiegen die Kreatininwerte vor der Meldung des Patienten an die Warteliste radikal an, fielen aber schon am nächsten Tag wieder ab, wie eine retrospektive Durchsicht der Akten ergeben hat.

Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen den Oberarzt, unter anderem wegen Bestechlichkeit. Es wurden Wohnungen durchsucht und Unterlagen beschlagnahmt. Der Justiz zufolge ist noch offen, ob absichtlich Daten gefälscht wurden und illegal Geld geflossen ist. Dies sei Gegenstand der Ermittlungen, sagte Staatsanwältin Serena Stamer. Was den mutmaßlichen Haupttäter getrieben hat, ist noch unklar. Er selbst hat sich bislang nicht öffentlich geäußert und war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Am Universitätsklinikum ist unbekannt, wo er sich aufhält. Gewiss aber ist: Lebertransplantationen sind finanziell lukrativ.

Rund 150.000 Euro bekommt eine Klinik für jeden Eingriff. Das hat vor allem historische Gründe. Immer noch haftet der Transplantationsmedizin das glorreiche Image an, sterbende Patienten geradezu dem Totengräber von der Schippe zu reißen. Zum anderen waren die Eingriffe einst tatsächlich teuer; bei Lebertransplantationen waren zahlreiche Blutkonserven nötig. Heute fördern kaufmännische Direktoren die lukrativen Transplantationsabteilungen, leitende Ärzte werden mit Anteilen gelockt. In Göttingen waren in den vergangenen Jahren kaum Lebern transplantiert worden - bis der nun verdächtige Oberarzt die Abteilung für Transplantationsmedizin übernahm. Binnen kürzester Zeit erhöhte er die Rate der Transplantationen auf rund 50 im Jahr, was im deutschlandweiten Vergleich viel ist. Die größten Zentren transplantieren gut 100 Lebern jährlich.

"Es ist sicher, dass das nicht eine Person allein war"

Fachleute halten es für ausgeschlossen, dass an den Machenschaften nur ein Arzt beteiligt war. "Es ist sicher, dass das nicht eine Person allein war", sagt der Strafrechtler Lilie. Für ein Netzwerk spricht auch, dass ein Mitglied des Krankenhauspersonals die Unregelmäßigkeiten bei den Aufsichtsgremien angezeigt hat. In Göttingen soll auch Geld von Patienten direkt an Ärzte geflossen sein. Das legen nach SZ-Informationen erste Untersuchungsergebnisse nahe. In einem Fall hat demnach die Prüfungskommission Anzeige wegen des Verdachts auf Organhandel erstattet. Mitunter sollen sogar Patienten betrunken in den Operationssaal gefahren worden sein.

Das Universitätsklinikum unterstütze die Aufklärung nach Kräften, betont Martin Siess, der Vorstand Krankenversorgung des Klinikums in Göttingen. Das Klinikum habe "inzwischen einen neuen Leiter der Transplantationschirurgie." "Ich bin sicher, dass die Indikation zur Transplantation bei den Patienten, die heute auf die Warteliste kommen, nach allen Regeln der Kunst gestellt wird", sagt Siess.

Auch Eurotransplant hat Konsequenzen aus dem Fall gezogen. Künftig muss jeder Internist, der einem Patienten Dialysepflicht bescheinigt, bei der Meldung für die Warteliste namentlich genannt werden. Zudem will sich Hans Lilie dafür stark machen, dass die Bundesärztekammer ihre Richtlinien verschärft. Dabei werde auch an ein Vier-Augen-Prinzip gedacht.

Gegen diese Richtlinien hat der jetzt angeklagte Oberarzt bereits früher verstoßen. Im Jahr 2005, da arbeitete er noch an einem bayerischen Universitätsklinikum, hatte er eine Eurotransplant-Leber mit nach Jordanien genommen, um sie dort zu transplantieren. Gegenüber Eurotransplant hatte er behauptet, die Patientin liege in Regensburg. Als Wohnort gab er die Adresse des Klinikums an.

Geschadet hat ihm das nicht. Die Staatsanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen ein, die Ärztekammer sah von einem Entzug der Approbation ab, die bayerischen Ministerien verließen sich auf ein Versprechen des Klinikums, so etwas werde nicht wieder vorkommen. Der Arzt machte danach sogar den Karrieresprung nach Göttingen.

Der aktuelle Fall schlage dem Fass den Boden aus, sagte ein Leberchirurg während der geheimen Tagung der DTG. "Ich bin wie alle Kollegen tief darüber betroffen, wie hier - sollten sich die Ermittlungen bestätigen - gegen die ärztliche Ethik verstoßen wurde", sagt auch der Bochumer Chirurg Richard Viebahn, Vorsitzender der Ethikkommission der DTG.

Im Ausland wurden Stationen schon aus kleineren Anlässen geschlossen

Die Fälle würden mit allem Nachdruck aufgeklärt, versichert unterdessen Hans Lilie. Es sei eine Task Force aus Mitgliedern der Ständigen Kommission Organtransplantation und der Prüfungskommission gegründet worden, die mit kriminalistischen Methoden die Staatsanwaltschaft bei ihrer Arbeit unterstützt.

In den USA seien Transplantationszentren schon aus viel kleineren Anlässen geschlossen worden, warnte Eurotransplant-Direktor Axel Rahmel die Ärzte während der Tagung in Berlin. Er forderte die deutschen Chirurgen auf, ihre Läden sauber zu halten. Das brachte ihm eine Beschimpfung als "Blockwart" ein.

Hintergrund: Transplantation in Deutschland

Wenn die Leber krank ist, hält sie meist noch eine Weile durch. Wie bei Prometheus hat das Organ viel Regenerationskraft, auch gegen Hepatitisviren und Alkohol. Doch oft ist eines Tages der Punkt erreicht, an dem die Leber zu versagen droht, wie dies auch bei einer akuten Vergiftung der Fall ist. Dann setzen Ärzte in Transplantationszentren den Patienten auf eine Warteliste für eine Transplantation. Den Überblick über die Wartelisten aller Zentren hat die Stiftung Eurotransplant im niederländischen Leiden. Sie verteilt nach einem strikt festgelegten Kriterienkatalog Spenderorgane an Patienten in ihren acht Mitgliedsländern, zu denen Deutschland gehört.

Die Zuteilung von Spenderlebern an deutsche Patienten erfolgt nach Dringlichkeit, die der MELD-Score ausdrückt. Ein hoher Score bedeutet, dass der Patient ohne ein neues Organ bald sterben wird. Schlechte Blut- und Nierenwerte setzen den Score ebenso herauf wie das Notwendigwerden einer Dialyse. Wer die meisten Punkte hat, steht auf der Warteliste ganz oben. Sobald einem Patienten eine Leber zugeteilt wird, informiert Eurotransplant die Klinik, bei der er gelistet ist. Den Transport des Organs an das Zentrum koordiniert die Deutsche Stiftung Organtransplantation, die auch für die Entnahme zuständig ist. Die nach Dringlichkeit organisierte Verteilung der knappen Spenderorgane soll vor allem eines leisten: dass es gerecht zugeht bei der Organspende.

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