Sucht:Breit in die Zukunft

Jugendliche mit Alcopop, 2004

"Wir dürfen so etwas auf keinen Fall tolerieren": Forscher warnen vor Alkoholkonsum bei Jugendlichen.

(Foto: Ute Grabowsky)
  • Alkoholforscher treffen sich in Berlin, um über neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu berichten - und neue Möglichkeiten im Kampf gegen den Alkohol zu diskutieren.
  • Deutsche sind im Durchschnitt eher stete Trinker, die fast täglich konsumieren, sich aber - Oktoberfeste einmal ausgenommen - eher müde als bewusstlos saufen.
  • Jüngere Menschen neigen dagegen zum Rauschtrinken - mit verheerenden Spätfolgen: "Diese Menschen werden nicht erwachsen."

Von Kathrin Zinkant

"Aufmachen?", fragt der Mann an der Kasse, schon landen die Kronkorken klirrend auf der Theke. Es ist nach Mitternacht in einem der Spätis, wie Trinkhallen in Berlin genannt werden. In jener Stadt, in der die Quellen des Alkohols nie versiegen. Gerade für internationale Besucher ist das interessant: Junge Touristen aus den USA, die daheim keinen Alkohol kaufen dürfen. Studenten aus Skandinavien, die sich das Bier zu Hause nicht leisten können. In den Berliner Verkaufsbuden kostet das Pils nur einen Euro.

So gesehen ist Berlin auch ein aufschlussreicher Ort für Alkoholforscher. Bis zum Montag treffen sie sich in der Stadt, um über neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu berichten - und neue Möglichkeiten im Kampf gegen den Alkohol zu diskutieren, der nicht einfacher geworden ist in den vergangenen Jahren. Der Säufer, der sich an der Schnapsflasche festhält, ist längst nur Klischee. "Alkohol ist ein Problem, das quer durch alle Gesellschaftsschichten geht", sagt Rainer Spanagel, Psychopharmakologe am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und Präsident des internationalen Meetings, für das einige der bekanntesten Suchtforscher der Welt anreisen. Und auf dem es nicht nur, aber auch um Deutschland gehen wird.

Denn mit einem Verbrauch von durchschnittlich knapp zehn Litern reinem Alkohol pro Jahr übertreffen die Bundesbürger sogar die Skandinavier, die wegen ihrer Urlaubseskapaden als unschlagbar versoffen gelten. Doch Mittelwerte sagen nichts über das Trinkverhalten einer Bevölkerung aus. Es kommt auf den Kulturkreis an. Deutsche sind stete Trinker, die fast täglich konsumieren, sich aber - Oktoberfeste einmal ausgenommen - eher müde als bewusstlos saufen. Vornehmlich mit Bier.

Das Einstiegsalter in den Konsum ist der entscheidende Risikofaktor

Amerikaner dagegen trinken im Jahresmittel zwar tatsächlich weniger reinen Alkohol als Deutsche. Sie trinken aber nicht wenig, sondern lediglich selten und dafür in Mengen: Mixgetränke, Shots (Kurze) und Cocktails bis zum Kollaps. Das sogenannte binge drinking, zu Deutsch Komasaufen, ist in den Vereinigten Staaten ein gewaltiges Problem. Unter anderem an Hochschulen. Der Blick auf diese Situation lohnt auch für hiesige Drogenexperten, denn im Gegensatz zu älteren Erwachsenen neigen die jüngeren Menschen in Deutschland laut dem aktuellem Suchtbericht der Drogenbeauftragten ebenfalls zum Rauschtrinken. Und das kann die Zukunft bestimmen.

"Was wir sehen, gepaart mit einer massiven Fehleinschätzung des eigenen Konsums, ist eine Fortsetzung dieses Trinkverhaltens in spätere Lebensphasen hinein. Diese Menschen werden nicht erwachsen", sagt George Koob, Direktor des Nationalen Instituts für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit in den Vereinigten Staaten. Koob setzt vor allem auf Kommunikation. Er hat seit seinem Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren viel Geld in die Aufklärung an den Universitäten der USA gepumpt, er dreht Dokumentationen für Sender wie HBO, und manchmal führt er 27 Interviews an einem Nachmittag. Allmählich zeichnen sich gewisse Erfolge ab, viele Bildungseinrichtungen akzeptieren den losen Umgang mit Alkohol nicht mehr. Und Rainer Spanagel, der Mannheimer Alkoholforscher, würde sich kaum etwas mehr wünschen, als dass man sich auch in Deutschland so orientieren würde, weg von der Bagatellisierung des Alkoholkonsums insbesondere für die Teenager.

"Das Einstiegsalter ist der entscheidende Risikofaktor dafür, im späteren Leben eine alkoholbezogene Störung zu entwickeln", sagt der Psychopharmakologe. Gemeint ist damit nicht nur Missbrauch, sondern auch Sucht. Es sei ihm unerklärlich, dass er in der Berliner S-Bahn 16-Jährige mit Schnapsfahne und einer Flasche Alkohol in der Hand antreffe. "Wir dürfen so etwas auf gar keinen Fall tolerieren", sagt Spanagel. Es geht ihm dabei weniger um die Neugier, die befriedigt werden will, als um den Vollrausch, den Elf- bis 17-Jährige erleben.

Es gibt Prognosen, dass das verbreitete Komasaufen den IQ der Briten sinken lässt

Abhängig werden sie davon nicht. Auch körperlich stecken Teenager vieles weg. Das Gehirn aber verzeiht in diesem Alter nichts. "Das ist eine Phase, in der wichtige Verbindungen im Gehirn entstehen ", erklärt Koob. Alkohol behindere diesen Prozess mit dem Ergebnis, dass sich die Impulskontrolle nicht richtig entwickeln könne. Ganz zu schweigen von geschädigten grauen Zellen. "Meine Prognose lautet, dass der durchschnittliche IQ der Briten in den nächsten 15 Jahren um zehn Punkte fallen wird", sagt Spanagel. Komasaufen unter Jugendlichen ist im Königreich mindestens so ein Problem wie in den USA.

Dem Kongresspräsidenten ist aber auch klar, dass solche Trinkmuster durch öffentliche Nulltoleranz nicht verschwinden. Eine Lösung gibt es nur, wenn die Vorbilder mitziehen. Wenn die Erwachsenen mit Alkohol umgehen können. Was aber zu selten der Fall ist. Thomas Hillemacher, der die Suchtmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover leitet, kennt das Problem. Man entspannt sich nach der Arbeit zu Hause oder geht ins Restaurant - und kaum jemand beendet so einen Abend, ohne das absolute Limit an Alkohol deutlich überschritten zu haben. Laut Weltgesundheitsorganisation beträgt es 20 bis 30 Gramm pro Tag. "Das ist gut ein halber Liter Bier oder ein Glas Wein", rechnet Hillemacher vor. Und wenn Kinder sehen, wie Erwachsene Grenzen überschreiten - warum sollten sie es selbst nicht tun?

Helfen könnte die Erkenntnis, die Suchtforscher wie Hillemacher und Spanagel schon lange haben, die sich aber erst allmählich in der medizinischen Praxis durchsetzt: Abstinenz ist in vielen Fällen mehr Hindernis als Lösung. Kontrollierter Konsum dagegen gibt Schwerstalkoholikern wie Gelegenheitstrinkern das Gefühl der Machbarkeit - und des Erfolgs, wenn die ersten Schritte getan sind. Das gilt für jeden, der Alkohol konsumiert. "Die Menge lässt sich reduzieren", sagt Hillemacher, "noch wichtiger ist: an drei oder vier Tagen in der Woche gar nichts trinken." Tröstlich dabei könnte die Erkenntnis sein, dass selbst Rotwein nicht gesund ist, auch in kleinen Mengen nicht.

Diesen Mythos hat die Forschung längst widerlegt "Jeder Tropfen Alkohol ist schädlich", sagt Spanagel. Ganz verzichten müsse deshalb niemand, das tun nicht einmal Alkoholforscher wie er. Aber ein öffentliches Bewusstsein dafür, dass Alkohol eine schöne, reizvolle, aber auch gefährliche Droge bleibt - das würde sich Spanagel wünschen.

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