Sozialer Rückzug:Die Weltflüchtlinge

Hunderttausende Japaner leben mit dem Computer als einziger Gesellschaft. Auch in westlichen Ländern schließen sich Menschen für Monate oder Jahre in einer Wohung ein. Handelt es sich um eine pathologische Entwicklung oder eine moderne Form der Einsiedelei?

Von Berit Uhlmann

Inside The Tokyo Game Show

Computer oder Spielekonsole ersetzen manchen Japanern die Welt.

(Foto: Kiyoshi Ota/Bloomberg)

Ganz in Schwarz mit langen Fingernägeln trat der 30-jährige Amerikaner den Ärzten entgegen. Drei Jahre lang hatte er seine Wohnung nicht verlassen. Eine Haushaltshilfe brachte ihm Fertiggerichte. In Spanien begegneten Ärzte vor Kurzem einem 25-Jährigen, der vier Jahre in seinem Zimmer im Elternhaus zugebracht hatte, bis seine Verwandten ihn in eine psychiatrische Klinik brachten. In beiden Fällen griffen die Mediziner zu einer Bezeichnung, die man in westlichen Ländern nur selten hört: Hikikomori.

Dieser Begriff steht für jene seltsamen Weltflüchtlinge, von denen es in Japan Umfragen zufolge 400.000 geben soll. Die jungen Menschen - meist Männer - schließen sich für mindestens sechs Monate, manchmal mehr als ein Jahrzehnt in ihre Zimmer ein. Offensichtlich gibt es also auch heute noch Einsiedler, die Frage ist: Was treibt sie eigentlich an?

Menschen wenden sich seit Jahrtausenden von der Welt ab. Im dritten Jahrhundert nach Christi etwa kam es mit den Wüstenvätern im heutigen Ägypten und Syrien zu einer regelrechten Eremitenbewegung. Sie war so stark, dass die Einsamkeit bald verwaltet werden musste. Pachomios, ägyptischer Mönch, sammelte im vierten Jahrhundert innerhalb von etwa 20 Jahren so viele Eremiten um sich, dass ein streng geregelter Klosterverbund mit mehr als 10.000 Mönchen und Nonnen entstand. Franziskus von Assisi fand schon bald, nachdem er sich die Kutte übergestreift hatte, Brüder, die es ihm gleichtun wollten, und beantragte beim Papst die Anerkennung seiner Glaubensgemeinschaft.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg bekamen die zuvor verstreut lebenden oberbayerischen Eremiten derart viel Zulauf, dass ein Institut der eremitischen Kongregation gegründet wurde, um den Zustrom in geregelte Bahnen zu lenken, schreibt Maria Anna Leenen in ihrem Buch "Einsam und allein? Eremiten in Deutschland".

Noch immer gibt es Einsiedler in Deutschland

Leenen lebt selbst als Einsiedlerin in der Nähe von Oldenburg, sie ist eine von geschätzten 80 Eremiten in Deutschland. Und so wie die meisten von ihnen, ist sie der Gesellschaft nicht komplett entrückt. Leenen verfasst Bücher, hat eine eigene Website und eine Art Blog. Andere Beispiele sind die Klausnerin, die jeden Sommer fast 4000 Wallfahrer empfängt und ihr Geld mit Korrekturarbeiten für einen Verlag verdient; oder der Benediktinermönch, der sich um die Instandhaltung einer alten Kapelle kümmert, was Geschick an Telefon und Computer verlangt. Gemeinsam ist ihnen ein weitgehend konsumverweigerndes, kontemplatives Leben im Glauben.

Auch bei den wenigen, die jenseits der Kirche ein Einsiedlerdasein leben, stehen religiöse Motive im Vordergrund. Und doch schimmert aus Leenens Beschreibungen noch etwas anderes durch: Einsamkeit erscheint, bei aller möglichen Härte, auch als Sehnsuchtsort. In diesem schlichten, ritualisierten Leben wird die verwirrende Zahl der Wahlmöglichkeiten, werden Unsicherheiten und Überforderung weitgehend gebannt.

Liegt in dieser Sehnsucht auch ein Stück weit das japanische Hikikomori begründet, das seit Ende der 1980er-Jahre beschrieben wurde? Die jungen Männer selbst beantworten die Frage nicht weiter. Wenn Ärzte oder Psychologen sie nach dem Sinn ihres Tuns fragen, ernten sie meist ein Achselzucken. Was reizt die jungen Männer an ihrem hermetischen Leben, was erwarten sie von der Zukunft, was schreckt sie an der Welt da draußen - die Antwort ist fast immer: "Ich weiß es nicht."

Die jungen Japaner schlafen, lesen, spielen am PC, surfen im Internet. In ihrer Isolation lässt sich kein Plan, keine Passion, kein Protest erkennen, sondern: Lethargie. Die meisten leben bei den Eltern und werden von ihnen versorgt. Dem Rückzug voran gehen oft soziale Probleme in Schule oder Ausbildung. Die Einsiedler im Kinderzimmer sind die klassischen Außenseiter.

Was treibt die jungen Japaner zur Flucht ins Kinderzimmer?

Florian Coulmas, Leiter des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio, tendiert zu der Auffassung, dass Hikikomori eher Japan-spezifische Züge trägt. "Sicher hat auch die Aufmerksamkeit, die dieser Fehlentwicklung geschenkt wird, kulturspezifische Aspekte", fügt er hinzu: "Wenn in Japan ein Problem erkannt ist, beschäftigt man sich damit häufig außerordentlich intensiv."

Andere Experten verweisen auf die starke Konformität in der Gesellschaft. Diese prallt unvermittelt auf das westliche Ideal von Individualität und Selbstverwirklichung, das im Schlepptau von Massenkultur und Tourismus ins Land gelangt. Der Rückzug könnte eine Antwort auf die Rollenkonflikte junger Menschen sein. Ein Drittel der Betroffenen zeigt Züge von Angst, Depressionen oder anderen psychischen Leiden. Nicht zuletzt deshalb gilt Hikikomori in Japan als eine Krankheit.

Andere Faktoren, die in der Fachliteratur diskutiert werden, sind weniger kulturspezifisch. Der Geburtenrückgang und eine Nesthockermentalität gehören dazu. Leben nur ein oder zwei Kinder in der Familie, sind genügend Ressourcen da, die das Verharren bei den Eltern selbst in extremer Ausprägung ermöglichen. Die Überalterung der Gesellschaft könnte Furcht vor einer Überlastung der Jüngeren mit sich bringen und eine komplette Resignation begünstigen. Auch der Druck auf Berufsanfänger in der lang währenden ökonomischen Krise ist eine mögliche Ursache, ebenso die starke Vernetzung, die die Welt virtuell auch den Eingeschlossenen zugänglich macht. Diese Phänomene sind in weniger starken Ausprägungen auch in westlichen Ländern verbreitet.

Dennoch scheint die extreme Isolation des Hikikimori außerhalb Japans rar und wohl auch anders gelagert zu sein. In Frankreich berichteten Psychiater von 21 Betroffenen, allerdings hatten 16 von ihnen weitere psychiatrische Leiden. In dem jüngst in Spanien bekannt gewordenen Fall litt der Mann an einer Zahnbehandlungsphobie, die sein Gebiss schadhaft und die Scham so groß werden ließ, dass sie für den Rückzug zumindest mitverantwortlich zu sein scheint. Der erste in den USA veröffentlichte Fall ist wohl auf dem Boden einer manisch-depressiven Erkrankung gewachsen.

Letztlich ist die Weltflucht etwas, das die Welt sehr genau beobachtet. Wie schon bei den christlichen Eremiten, die ja in einem zumindest geistigen Verbund mit Gleichgesinnten lebten und deren Dasein nicht selten organisiert war, zeigt sich: Das Band zwischen Mensch und Gesellschaft mit all ihren Konventionen ist stark. Man löst es nicht leicht. Das gilt für die bis in den letzten Winkel vernetzte moderne Welt umso mehr.

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