Seltene Krankheiten:Der Diphtherie ausgeliefert

Auch in Europa sterben noch Kinder an der Krankheit - weil das lebensrettende Medikament kaum noch hergestellt wird.

Von Kai Kupferschmidt

Das kleine Mädchen kam am 10. März mit einer schweren Mandelentzündung ins Krankenhaus. Die Ärzte am Universitätsklinikum Antwerpen hatten schnell den Verdacht, dass die Dreijährige Diphtherie hatte. Um diese Krankheit zu behandeln, sind nicht nur Antibiotika notwendig, sondern auch ein Antiserum, das das Gift der Bakterien unschädlich macht. Die Ärzte bestellten das Medikament, ohne auf die Bestätigung ihrer Diagnose durch das Nationale Referenzlabor zu warten. Doch als diese am 15. März kam, hatten sie das Serum immer noch nicht. In Belgien war es schlicht nicht verfügbar. Mit Hilfe der Europäischen Seuchenschutzbehörde ECDC erhielten sie das Medikament schließlich aus den Niederlanden. Doch es war zu spät. Das Mädchen starb am nächsten Tag.

"Es ist traurig, dass so etwas heute in Europa passieren kann," sagt Michael Hust. Das Problem bestehe schon seit Jahren, sagt er. Hust ist Biotechnologe an der Technischen Universität Braunschweig und er arbeitet daran, ein neues Antiserum gegen Diphtherie zu entwickeln. Dafür hat er einen ungewöhnlichen Unterstützer gefunden. Er hat gerade 134 000 Euro von der Tierschutzorganisation Peta erhalten. Und das, obwohl seine Arbeit zwangsläufig auch zu Tierversuchen führen wird.

Seit es einen Impfstoff gibt, lohnt sich die Herstellung des Medikaments nicht mehr

Um Husts Projekt zu verstehen, muss man weit zurückblicken: Im 19. Jahrhundert war die Diphtherie eine gefürchtete Krankheit. "Sie war als 'Würgeengel der Kinder' bekannt", sagt Anja Takla vom Robert-Koch-Institut in Berlin. Meist beginnt die Krankheit mit Halsschmerzen, Fieber, Schluckbeschwerden. Rachen und Kehlkopf können stark anschwellen, eine tödliche Gefahr. "Die Kinder bekommen keine Luft mehr", sagt Takla. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Wissenschaftler, dass vor allem ein Gift, das die Bakterien produzieren, das Diphtherietoxin, gefährlich ist.

Der deutsche Forscher Emil von Behring fand wenig später ein Gegenmittel. Er spritzte das Gift Pferden. Deren Immunsystem produzierte dann Antikörper dagegen, und Behring konnte das Serum der Pferde als eine Art Gegengift erkrankten Kindern verabreichen. Die Methode war ein großer Erfolg: Die Firma Höchst begann, das Serum in Dutzenden Pferden herzustellen. Als 1901 der Medizin-Nobelpreis das erste Mal verliehen wurde, erhielt ihn Behring für seinen Durchbruch.

115 Jahre später ist die Diphtherie dank eines sicheren und wirksamen Impfstoffs zurückgedrängt. Zwischen 2009 und 2014 gab es laut ECDC nur 79 Fälle in Europa. Entsprechend uninteressant ist die Herstellung des Antiserums geworden. Der letzte europäische Produzent in Kroatien hat dichtgemacht, die gelagerten Seren sind zum Großteil abgelaufen. Das Mittel wird noch in Russland, Indien und Brasilien hergestellt. Doch die Verfügbarkeit und das Importieren sind große Hürden. "Soweit wir wissen, ist hierzulande noch etwas vorhanden", sagt Takla. "Aber Deutschland ist natürlich auch von diesen Lieferschwierigkeiten betroffen." Der Mangel an Antiserum sei "sehr besorgniserregend", schreibt das ECDC in einer Risikoeinschätzung, die im März veröffentlicht wurde. Das Gleiche schrieb die Behörde im Juni 2015. Damals war ein Kind in Spanien unter ähnlichen Umständen gestorben.

Hust möchte nun ein neues Diphtherie-Serum entwickeln, das in Zellen im Labor hergestellt wird. "Das läuft noch immer ab wie zu Behrings Zeiten", sagt der Forscher. Dabei gebe es längst moderne Methoden, die auf Pferde verzichten könnten. Nur fehle eben der Markt dafür, seit es den Impfstoff gibt und die Krankheit so selten geworden ist. In der EU ist Hust mit einem Förderantrag gescheitert, doch nun ist Peta eingesprungen. Die Tierschützer wollen verhindern, dass Pferde weiter als "Medikamentenfabrik" genutzt werden. So hätten Inspektionen in Indien etwa gezeigt, dass viele der Tiere krank und schlecht ernährt seien, heißt es bei Peta.

Husts Team hat mit der Arbeit bereits begonnen. "Ich habe wenig Zweifel, dass es uns gelingen wird, gute Antikörper zu entwickeln", sagt er. "Die größte Herausforderung ist es, nachher in die klinische Entwicklung zu gehen." Die erforderlichen Tests am Menschen werden Millionen kosten, und es ist vollkommen offen, wer die Kosten übernehmen wird. Doch bevor die Antikörper im Menschen getestet werden können, gibt es noch eine andere Hürde: Tierversuche. Das wissen natürlich auch die Tierschützer. "Die sind pragmatisch", sagt Hust. "Sie zahlen natürlich nicht die Tierversuche, aber sie wissen auch, dass das niemals in den Menschen kommt, ohne dass vorher Tierversuche gemacht wurden."

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