Schwindel:Wenn der Halt verloren geht

Schwindel: Schwindel hat viele Formen: Drehschwindel, Schwanken, Gangunsicherheit und Benommenheit gehören dazu.

Schwindel hat viele Formen: Drehschwindel, Schwanken, Gangunsicherheit und Benommenheit gehören dazu.

(Foto: Illustration: Ilona Burgarth)

Schwindel ist häufig und prinzipiell gut behandelbar. Dennoch müssen viele Patienten lange auf eine Diagnose warten und überflüssige Untersuchungen auf sich nehmen - während sich ihr Leid eher noch vergrößert.

Von Berit Uhlmann

Auf der Leinwand wird das volle Programm geboten. Die Kamera rast auf einem Zug durch eine Schlucht, der windet sich um enge Kurven und spätestens wenn der Blick der Kinozuschauer in einen steilen Abgrund gerichtet wird, geht es auch mit dem Wohlgefühl mancher Kinobesucher bergab. Das Erlebnis Action-Film kann das Hirn gewaltig irritieren - ganz unabhängig von Geschmacksfragen. Die Augen melden ihm rasante Bewegung, während der Körper bewegungslos im Sessel verharrt. Das Denkorgan kann die widersprüchlichen Signale nicht verarbeiten. Es reagiert mit Schwindel und zeigt so, dass etwas an dem fein austarierten Zusammenspiel zwischen Bewegungssensoren in Haut und Gelenken, Augen, Gleichgewichtsorgan und Gehirn nicht stimmt.

Das Gleichgewichtssystem ermöglicht dem Menschen in nahezu jeder Lage seine Balance zu halten und sich im Raum zu orientieren. Diese Fähigkeiten sind so elementar, dass Störungen heftig angezeigt werden: durch Schwindel, der sich in den meisten Fällen sehr unangenehm anfühlt. Wer plötzlich den Halt verliert, wem der Boden nicht mehr zuverlässig unter den Füßen zu ruhen scheint, erlebt dies sehr häufig als zutiefst beunruhigend.

Umso verstörender ist es, wenn auch der Gang zum Arzt nicht zur Beruhigung beiträgt. Längst nicht jeder Hausarzt kann sich einen Reim auf die Beschwerden seines Patienten machen - das zeigten Forscher eines interdisziplinären Schwindelzentrums in Zürich. Etwa 70 Prozent ihrer Patienten hatten vom Hausarzt die Diagnose "unklarer Schwindel" erhalten. In den meisten Fällen aber ließ sich durchaus eine Erklärung finden; nach der Untersuchung durch die Spezialisten fehlte nur noch in zehn Prozent der Fälle eine eindeutige Diagnose.

Auch Marianne Dieterich und Michael Strupp vom Schwindelzentrum der Münchner LMU kennen das Problem: Für Schwindel bestehe "weiterhin eine Unter- und Fehlversorgung", schreiben sie in einem Aufsatz fürs Deutsche Ärzteblatt. Viele Patienten müssen lange auf eine Diagnose warten und sich aufwendigen technischen Untersuchungen unterziehen, die gar nicht nötig wären. Ähnlich sieht es bei der Behandlung aus: Es werden zu viele Medikamente eingesetzt, die die Symptome allenfalls kurzfristig lindern.

Dabei ist Schwindel prinzipiell gut behandelbar, wie die Experten auf einem SZ-Gesundheitsforum betonen. "90 Prozent der Patienten erhalten eine klare Diagnose, 80 Prozent kann geholfen werden", zitiert Strupp Zahlen des Münchner Schwindelzentrums. Apparatemedizin oder Medikamente sind längst nicht immer nötig. "Eine gründliche Befragung des Patienten ist bereits die halbe Miete", erläutert die Neurologin Marianne Dieterich. Aus der Art der Beschwerden, ihrer Häufigkeit und möglichen Begleitsymptomen können geschulte Mediziner viele Erkenntnisse ziehen.

Schwindel ist keine eigenständige Krankheit, sondern Symptom einer ganzen Reihe von Erkrankungen. Mitunter kann er auf lebensbedrohliche Entwicklungen wie einen Schlaganfall hinweisen. Er kann aber genauso gut harmlos sein. Manchmal löst ein neues Medikament die Beschwerden aus, manchmal ist eine neue Brille schuld: "Deutlich stärkere oder Gleitsichtgläser können zu einer leicht verzerrten Raumwahrnehmung, einer Irritation des Gleichgewichtssinnes und damit zu Schwindel führen", erläutert der Augenarzt Oliver Ehrt. In vielen Fällen verschwinden die Beschwerden nach einer bis drei Wochen, wenn sich der Brillenträger an die veränderte Wahrnehmung gewöhnt hat. Mitunter müssen die Gläser neu angepasst werden.

Die Rolle der Psyche wird oft übersehen

Auch eine der häufigsten Schwindelformen überhaupt ist harmlos und einfach zu diagnostizieren. Der sogenannte gutartige Lagerungsschwindel tritt immer dann auf, wenn der Patient ganz bestimmte Bewegungen ausführt. Ursache sind kleine Kristalle, die sich aus einer Membran im Gleichgewichtsorgan gelöst haben und bei bestimmten Kopfhaltungen Sinneszellen in den benachbarten Bogengängen reizen. Diese Fehlreize irritieren das Gehirn so sehr, dass es mit kurzem, heftigem Schwindel reagiert.

Die Attacken lassen sich durch typische Bewegungen provozieren und geben dem Arzt einen deutlichen Hinweis auf die Erkrankung. Ähnlich einfach kann der Schwindel wieder geheilt werden: Mit speziellen Bewegungen lassen sich die Steinchen aus den Bogengängen auch wieder herauskatapultieren; sie landen dann an ihrem Herkunftsort, wo sie abgebaut werden. Mit diesen Übungen werden die Patienten ihre Schwindelattacken in etwa 90 Prozent der Fälle wieder los, sagt Eike Krause, HNO-Arzt an der LMU.

Dass manche Schwindel-Patienten erfolglos von einem Arzt zum anderen laufen, liegt auch daran, dass eine wesentliche Komponente bisweilen übersehen wird: die Psyche. Etwa 30 Prozent aller Patienten mit organischen Schwindelerkrankungen entwickeln einen lang anhaltenden, psychisch bedingten Schwindel, erläutert die Psychologin Gabriele Schmid. Bei etwa 30 bis 50 Prozent aller Menschen, die über wiederkehrenden Schwindel klagen, können Ärzte gar keine organische Ursache finden. Der Gleichgewichtssinn der Betroffenen funktioniert perfekt, dennoch haben sie das Gefühl, nicht sicher auf ihren Beinen zu stehen, zu kippen oder zu schwanken. Gefährdet sind vor allem Menschen, die den Schwindel als besonders bedrohlich erleben: Steckt vielleicht eine unheilbare Krankheit dahinter? Was werden die Kollegen sagen, wenn ich mich schon wieder hinsetzen muss? Sie horchen furchtsam in sich hinein. Ein kleines Schwanken oder Straucheln, ein leichtes Unwohlsein wird mit Angst registriert und mündet direkt in neuen Schwindel.

Obwohl Angst sehr häufig zu ihrem Begleiter wird, gehen die meisten Betroffenen zunächst nicht von einer psychischen Ursache aus. Sie glauben, die Ärzte hätten bei den Untersuchungen etwas übersehen. Das kann auch die Mediziner überfordern, sagt die Psychologin. Sie überweisen die Patienten weiter, es gibt noch mehr Untersuchungen, noch mehr Technik - fast alles überflüssig.

Und während Betroffene und Ärzte über Bildern, Kurven und Laborwerten brüten, droht aus dem Blick zu geraten, wie sehr die Betroffenen leiden. Denn sie sind beileibe keine Simulanten oder gar Querulanten, sondern genauso krank wie andere Patienten auch. Etwa 80 Prozent von ihnen fühlen sich massiv in ihrem Alltags- und Berufsleben beeinträchtigt, einige werden arbeitsunfähig. "Die Lebensqualität der Betroffenen ist stärker beeinträchtigt als bei Patienten mit organisch bedingtem Schwindel", sagt Schmid.

Was diese Patienten brauchen, ist zunächst jemand, der ihnen zuhört und ihr Leid erkennt. Sprechen und Zuhören ebnen sehr oft auch den Weg zur Heilung. Psychotherapien können hilfreich sein, Gleichgewichtstrainings und Entspannungsübungen unterstützen den Prozess. Vor allem aber profitieren viele dieser Patienten von einer ärztlichen Tugend, die auch anderen Schwindelgeplagten hilft: von geduldiger Aufklärung darüber, was ihnen so plötzlich den Halt raubt.

Die Experten des Gesundheitsforums

Professorin Dr. Marianne Dieterich, Neurologische Klinik und Poliklinik, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München Professor Dr. Thomas Graf von Arnim, Praxis für Innere Medizin und Kardiologie, München Professor Dr. Oliver Ehrt, Augenklinik der LMU Professor Dr. Eike Krause, Klinik und Poliklinik für Hals, Nasen, Ohren der LMU Dr. Gabriele Schmid, Diplom-Psychologin, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Technischen Universität München Professor Dr. Michael Strupp, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Klinikum der LMU

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