RNA-Medizin:Das Molekül, das Forscher für den Ursprung des Lebens halten

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Kooperation im Körper: rRNA treibt Reaktionen an, mRNA liefert Baupläne aus dem Erbgut.

(Foto: Lisa Bucher)

Ribonukleinsäuren, kurz RNA, könnten der Schlüssel zum Verständnis des Lebens sein - und künftig Krankheiten wie Krebs besiegen.

Von Kathrin Zinkant

Als die Welt noch jung war, soll es auf der Erde wenig einladend ausgesehen haben. Brodelnde Tümpel, heiße Säurepfützen, kaum Sauerstoff. Dennoch muss in diesen unwirtlichen Flüssigkeitsansammlungen vor mehr als drei Milliarden Jahren das Leben begonnen haben. Klein, sehr klein. Ohne Zellen, ohne Eiweiße, ohne Gene. Und doch vielfältig. Denn das Molekül, das Forscher heute für das Urmolekül des Lebens halten und das zu jener Zeit wohl in den Tümpeln zu finden war, kann vieles: Es kann Information speichern, sich kopieren, chemische Reaktionen beschleunigen, klein oder groß sein. Sein Name? Ribonukleinsäure, englisch RNA abgekürzt. Die Welt vor drei Milliarden Jahren?

Eine RNA-Welt. Ob es diese RNA-Welt wirklich gegeben hat, wird sich nicht mehr überprüfen lassen. Doch auf gewisse Weise wird sie gerade wiederentdeckt - als reales Gebilde, das in den Zellen aller Lebewesen existiert und ein atemberaubendes Netzwerk bildet. Eine Mini-RNA-Welt, die der Schlüssel sein könnte, um das Leben als solches zu verstehen und Krankheiten zu besiegen. Die RNA-Medizin ist ein Feld, das seit einigen Jahren regelrecht explodiert. Und die biochemischen Protagonisten in diesem neuen Zweig der Biomedizin sind inzwischen derart zahlreich, dass immer wieder von einem RNA-Zoo die Rede ist.

Eine Salmonelle sitzt auf einem Salatblatt in der frischen Luft, wenig später im Säurebad des Magens.

Es ist zugleich eine Revolution, mit der vor 15 Jahren wohl kaum jemand gerechnet hätte. Denn über fast ein halbes Jahrhundert hinweg drehte sich in der Biomedizin fast alles um zwei andere Akteure: die DNA, die im Code der Gene die Baupläne für alle Eiweiße des Körpers speichert. Und eben diese Eiweiße, die aus den Genen hergestellt werden. Sie dienen als Baustoff für Zellen und Muskeln, sie kontrollieren Prozesse und speichern Informationen. Eiweiße stehen im Mittelpunkt aller Funktionen und Fehlfunktionen des Körpers. Die Mehrheit moderner Medikamente zielt deshalb direkt auf Proteine ab. RNA spielte in diesem Gefüge lange Zeit die Rolle einer Hilfssubstanz, einer Brücke zwischen Erbinformation und dem Produkt dieser Information, den Proteinen.

Nachdem Proteine bekannt und die Struktur des Erbgutmoleküls DNA 1953 aufgedeckt worden war, suchten neben den DNA-Entdeckern Francis Crick und James Watson zahlreiche andere spätere Nobelpreisträger wie Sidney Brenner, Jacques Monod oder François Jacob nach einer Substanz, die eine solche Brücke bilden konnte. Man fand die Proteinfabriken der Zelle, die zu zwei Dritteln aus RNA bestehen und heute Ribosomen heißen. Man entdeckte Transfer-RNAs, die Eiweißbausteine nach dem Code liefern, der in der DNA gespeichert ist. Und schließlich fanden die Forscher auch den Boten: Messenger-RNAs kopieren Gene und schaffen die Bauanleitungen zu den Ribosomen. Das Dogma der Biologie, demzufolge Information vom Erbgut über die RNA zum Eiweiß fließt - es war erfüllt.

Dass es noch eine RNA-Welt gibt, die in dieses Dogma nicht herein passt, begann man erst mit der sogenannten RNA-Interferenz zu erahnen. Der Prozess wurde Ende der 1990er-Jahre in Fadenwürmern entdeckt: Demnach sind besondere Formen von RNA in der Lage, die Produktion von Proteinen zu unterdrücken oder zu verhindern. Sie funken einfach rein in das Zusammenspiel von Gen, Messenger und Eiweißfabrik. Und wie der damals in Göttingen forschende Thomas Tuschl vor 15 Jahren zeigen konnte, tun sie das auch in den Zellen von höher entwickelten Tieren. Nötig sind dafür nur kleine Schnipsel RNA, die small interfering RNAs, kurz siRNAs. Sie binden gemeinsam mit einem Eiweiß an die Messenger-RNAs. Und stoppen sie.

Die neuen Methoden heißen "next generation sequencing"

Von Beginn an war klar, dass allein dieser Mechanismus ungeahnte Möglichkeiten bieten würde, in Zellen einzugreifen. Doch es ist nicht bei den kleinen, interferierenden Schnipseln geblieben. Heute kennen Biochemiker und Biologen Micro-RNAs, long non-coding RNAs, Piwi-binding RNAs, zirkuläre RNAs und eine Vielzahl anderer, mehr oder weniger kurzer Ribonukleinsäurestücke, die wichtige Rollen im Regelwerk des Lebens spielen.

Zusammengefasst werden sie non-coding, nicht codierende RNAs genannt. Der Name rührt von der Tatsache her, dass die meisten dieser Biomoleküle eigene Gene haben, welche eben nicht für Proteine codieren. Diese Gene liegen in jenen rund 90 Prozent des Erbguts, die man lange Zeit als "junk" bezeichnete, als Müll - eben weil dort keine Baupläne für Eiweiße gespeichert sind und man ihnen auch sonst keine Funktion zuweisen konnte. Zumindest so lange nicht, bis die wissenschaftlichen Methoden reif dafür waren.

"Das Forschungsfeld hat vor allem durch die neuen Sequenziertechnologien einen enormen Sprung nach vorn gemacht", sagt Markus Landthaler vom Berlin Institute for Medical Systems Biology, BIMSB am Max-Delbrück-Centrum. Die neuen Methoden werden unter dem Namen next generation sequencing zusammengefasst und erlauben nicht nur, sogenannte Transkriptome von Zellen und Geweben zu erfassen - also die Gesamtheit verschiedener RNAs, die vom Erbgut der Zelle abgeschrieben werden.

"Man muss bedenken, dass Bakterien sehr viel schneller auf Veränderungen reagieren müssen als die Zellen eines Gewebes"

Eine weitere Revolution besteht darin, einzelne Zellen in verschiedenen Momenten aufbrechen und analysieren zu können. So lässt sich das Wirken der RNA zu allen Zeitpunkten und auf jeder Ebene genau beobachten. Es hat sich gezeigt, dass es kaum Vorgänge in der Zelle gibt, die nicht von nicht codierenden RNAs reguliert werden. Und dass deshalb auch an jedem Kontrollverlust, jeder Fehlregulation eines dieser Biomoleküle beteiligt sein kann.

Etwa dann, wenn eine Zelle anfängt, sich ungehemmt zu teilen - und Krebs zu verursachen. So verhält es sich zum Beispiel mit der Micro-RNA let-7. Entdeckt wurde sie vor 16 Jahren von Frank Slack, der heute in Harvard forscht. Slack hat zeigen können, dass let-7 ein sehr wichtiger Regulator für ein sogenanntes Onkogen ist, also ein Gen, das Krebs auslösen kann, wenn es außer Kontrolle gerät. Aber nicht nur bei Krebs spielen die kleinen RNAs eine Rolle: Sie kommen auch in Bakterien vor und regulieren dort ziemlich zügig das Zusammenspiel der Mikroorganismen mit der Umwelt. "Man muss bedenken, dass Bakterien sehr viel schneller auf Veränderungen reagieren müssen als die Zellen eines Gewebes", erklärt Jörg Vogel von der Universität in Würzburg.

"Wenn eine Salmonelle auf einem Salatblatt sitzt, ist sie gerade noch an der frischen Luft und kurze Zeit später womöglich schon im Säurebad des menschlichen Magens." Kleine RNAs können für eine solche schnelle Anpassung sehr hilfreich sein. Vogel ist ein international anerkannter RNA-Experte, vor wenigen Tagen erhielt er die höchste deutsche Förderauszeichnung, den Leibniz-Preis. In Kürze wird er in Würzburg die Leitung eines neuen Helmholtz-Instituts für RNA-Forschung übernehmen.

"Es gibt dort Tausende von Bakterienarten"

Er will dort die Rolle von kleinen RNAs für die Entstehung von Antibiotikaresistenzen untersuchen, um solche Resistenzen möglicherweise auszuschalten und Antibiotika wieder wirksam zu machen. Eine andere Idee bezieht sich auf das Mikrobiom, also die Bakterien, die vor allem im Darm eines Menschen leben. "Es gibt dort Tausende von Bakterienarten", sagt Vogel. "Und es wird immer deutlicher, dass einzelne dieser Bakterienarten im Zusammenhang mit Krankheiten stehen." Der Forscher kann sich vorstellen, solche Ausreißer künftig mithilfe von kleinen RNAs ganz gezielt aus dem Verkehr zu ziehen.

Inzwischen haben zahlreiche Biotech-Firmen auf Grundlage des sich stetig erweiternden RNA-Zoos Therapien entwickelt, zum Teil werden die Medikamente bereits an Patienten geprüft. Die meisten dieser Behandlungen richten sich gegen angeborene genetische Erkrankungen - oder eben gegen die Angstkrankheit Nummer eins, Krebs. Zum Einsatz kommen Messenger-RNAs, siRNAs oder Micro-RNAs, die teilweise chemisch verändert und dadurch stabilisiert werden, und die auf verschiedenen Wegen in die gewünschten Gewebe eingeschleust werden. Auch mehrere deutsche Firmen wie Curevac in Tübingen oder BioNTech in Mainz setzen auf verschiedene RNA-Systeme, um Impfungen und Therapien zu entwickeln.

Eine dieser Therapien hat in dieser Woche erfreuliche Schlagzeilen gemacht: Eine RNA-Therapie ermöglicht kleinen Kindern mit einer genetisch bedingten spinalen Muskelatrophie eine vorläufig normale Entwicklung. Bislang gibt es keine Mittel gegen das Leiden, die Babys sterben meist vor dem zweiten Lebensjahr. Das Medikament Nusinersen, entwickelt vom US-Biotechunternehmen Ionis, hat in einer klinischen Studie nun derart überzeugende Resultate geliefern, dass die Studie aus ethischen Gründen vorzeitig beendet wurde, es wird nun mit einer raschen Zulassung der Therapie gerechnet.

Vom Konzept her sollte die Arznei keine Nebenwirkungen haben. Dann starben binnen kurzer Zeit 17 der rund 130 Patienten

Zuvor hatte es allerdings auch schon schlechte Nachrichten gegeben. Anfang Oktober gab das US-Unternehmen Alnylam den Abbruch einer klinischen Studie wegen zahlreicher Todesfälle bekannt. Alnylam gilt als eine der Top-Firmen, die RNA-Interferenz für die Therapie nutzen wollen, zu den Gründern des Unternehmens gehört Thomas Tuschl, der heute an der Rockefeller University in New York forscht. Das Medikament, Revusiran, richtete sich gegen eine erbliche Amyloidose, bei der sich Eiweiße in Herz und Leber ablagern, weshalb die Patienten im Verlauf der Erkrankung eine Herz- und Lebertransplantation benötigen. Alnylam hatte eine chemisch veränderte siRNA entwickelt, um die Produktion des Eiweißes in den Leberzellen zu blockieren und den Krankheitsverlauf zu stoppen. Vom Konzept her sollte die Arznei keine Nebeneffekte erzeugen. Dann starben binnen kurzer Zeit 17 der rund 130 behandelten Patienten.

Die Ursachen sind unklar. Markus Landthaler, der bei Tuschl geforscht hat, hält es für möglich, dass die chemische Veränderungen der kleinen RNA-Schnipsel zumindest einen Beitrag geleistet haben. Andere Experten spekulieren über Off-target-Effekte, also darüber, dass sich die Schnipsel nicht nur an das gewünschte, sondern auch an andere, unbekannte Ziele heften. Einig sind sich die Fachleute aber auch darin, dass Revusiran zwar einen Rückschlag darstellt, aber nicht das Ende der RNA-Medizin. "Jede Firma hat ihre eigenen Plattformen", sagt Landthaler und meint damit die spezifischen Kombinationen aus RNA-Mechanismus, Veränderung der RNA und Verabreichung, die für die Behandlungen entwickelt werden. "Es ist deshalb höchst unwahrscheinlich, dass der beobachtete Effekt alle Therapien betrifft."

Landthaler mahnt dennoch, dass es noch einige Grundlagenforschung brauchen wird, um die ungemein komplexen Wechselwirkungen zwischen RNAs und dem nicht minder vielfältigen Rest der Zelle zu verstehen. Mindestens zwei neue Einrichtungen soll es in Deutschland bald geben, die auf diese grundlegende RNA-Biologie fokussieren: Neben dem Helmholtz-Institut in Würzburg erhält das Institut für Medical Systems Biology in Berlin gerade ein eigenes Gebäude am Charité-Campus. Geplant sind 25 Arbeitsgruppen, fast doppelt so viele wie bisher. Man darf davon ausgehen, dass die RNA-Welt der Gegenwart weiter wachsen wird.

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