Psychiatrie:Wenn seelisch kranke Kinder erwachsen werden

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Wenn Jugendliche mit Erkrankungen wie ADHS oder Drogensucht volljährig werden, bräuchten sie eigentlich eine besonders gute Betreuung. Doch die derzeitige psychiatrische Versorgung ist für diese Übergangsphase noch unzureichend vorbereitet.

Von Christian Weber

Die Eltern waren schockiert. Dabei hatten sie bereits hart zu kämpfen gehabt, als ihnen der Arzt mitgeteilt hatte, dass ihr damals 17-jähriger Sohn an einer schizophrenen Psychose leidet. Immerhin hatten sie seitdem einen Name für all die Auffälligkeiten, die sich bei ihm schon seit Jahren gezeigt hatten: die bizarren Zornausbrüche und hundsmiserablen Schulleistungen, der ständige Streit mit den Geschwistern. Hoffnung schöpften sie, als sich ihr Sohn nach der stationären Aufnahme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu stabilisieren schien, sogar ein Studium in Regensburg in Angriff nahm. Doch dann kam der Absturz, als der Sohn in einer eigentlich gut gemeinten therapeutischen Wohngemeinschaft mit vier älteren, psychisch kranken Männern zusammenzog.

"Diese hatten wenig Tagesstruktur, lebten in den Tag hinein", berichtet die Mutter, Eva Straub. "Tapfer stand unser Sohn morgens als Einziger eine Woche lang auf und fuhr in die Uni, dann ließ seine Motivation nach, und nach drei Wochen lag auch er mittags noch im Bett und ließ Studium Studium sein." Danach versuchte er es nie wieder mit der Universität.

Der Bericht der stellvertretende Vorsitzenden des Landesverbandes Bayern der Angehörigen psychisch Kranker e.V. war der Schlusspunkt, aber auch der emotionale Höhepunkt eines SZ-Gesundheitsforums, das sich mit einer wichtigen, aber immer noch unterschätzten Frage beschäftigte: Was passiert eigentlich mit seelisch kranken Jugendlichen, wenn sie erwachsen werden? Es ist die Zeit eines "markanten bio-psycho-sozialen Umbruchs, der sie selbst und ihre Umgebung strapaziert", sagte Moderatorin Monika Dorfmüller. Die Referenten seien aufgerufen, Wege zu beschreiben, wie diese Übergangszeit am besten zu bewältigen sei.

Es gehe um Fragen, die sich die Eltern von Betroffenen und die Kranken selber wohl alle spätestens dann stellen, wenn die Pubertät beginnt, wie Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor des kbo-Heckscher-Klinikums in München im Eröffnungsvortrag formulierte: "Was wird aus meiner Tochter? Wie geht es weiter mit meinem Sohn? Wer kümmert sich in Zukunft um mich?"

Leider verhalte es sich eben nicht so, dass mit der Volljährigkeit die typischen Störungsbilder der Jugendlichen wie ADHS, Suchterkankungen, Depressionen oder schizophrene Psychosen einfach verschwinden. Vielmehr komme es gerade beim Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter zu typischen, aber durchaus divergenten Komplikationen.

Da gibt es die noch unreifen Psychosepatienten, die nach Erreichen ihrer Volljährigkeit nicht mehr in die Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen werden, wo sie beschützt und intensiv betreut werden. Sie geraten dann nicht selten übergangslos in die Erwachsenenpsychiatrie mit zum Teil erheblich älteren Mitpatienten, häufig ohne angemessene Betreuung. Umgekehrt können noch minderjährige, großgewachsene, kräftige männliche Jugendliche mit einer Sozialverhaltensstörung eine Station aufmischen, wenn sie - womöglich noch unter Drogeneinfluss eingewiesen - aggressiv werden. Hier sei dann eher die Krisenintervention der Erwachsenenpsychiatrie gefragt. Offensichtlich sei jedoch die Gefahr, dass die Betroffenen schlimmstenfalls "in ein therapeutisches Niemandsland ohne angemessene psychiatrische Versorgung" abdriften.

Der Entwicklungsstand psychisch kranker Jugendlicher und junger Erwachsener richte sich eben nicht nach Daten in den Geburtsurkunden. Menschen reifen unterschiedlich schnell, und deshalb plädierte Freisleder für ein "besseres Überleitungsmanagement" - ein Leitthema des Abends. Kinder- und Jugendpsychiater sollten sich gemeinsam mit den Ärzten der Erwachsenenpsychiatrie abstimmen, sodass der Übergang reibungsloser verläuft, auch mal vorgezogen oder verschoben werden kann. Sinnvoll wäre es, zumindest in den großen psychiatrischen Häusern, spezielle Stationen für junge Erwachsene einzurichten, wo gezielt auf deren Bedürfnisse eingegangen werden kann. Und genau eine solche werde die Heckscher-Klinik noch in diesem Jahr gemeinsam mit dem Inn-Salzach-Klinikum im oberbayerischen Wasserburg eröffnen.

So ist es kein Wunder, dass der ärztliche Direktor dieser Klinik, Gerd Laux, diesem Vorhaben auch aus der Sicht der Erwachsenenpsychiatrie zustimmte. Auch diese müsse mehr darüber nachdenken, wie sich "das pathologische Bild einer Störung über die Lebensspanne ändert", in Kindheit und Jugend, beim Übertritt in das Erwachsenenalter, ebenso aber im Alter von 30, 45 oder gar 70 Jahren. Allzu häufig hätten psychisch kranke Menschen erst als Erwachsene ihren ersten Kontakt mit der Psychiatrie, wo doch der Beginn ihrer Störung in der Kindheit oder Jugend liege. Dabei gäbe es womöglich gerade in dieser Zeitspanne Chancen, noch günstig auf einen Krankheitsverlauf einzuwirken.

Zu diesem Lebensspannen-Ansatz gehöre es auch, zu erforschen, welche Faktoren in welchem Alter das Risiko erhöhen, oder aber auch Resilienz schaffen: "Was sind die protektiven Faktoren?" Im Sinne des Vulnerabilitäts-Stress-Konzeptes müsse man davon ausgehen, dass sich je nach biologischer Ausstattung und Biografie die Stresstoleranz unterscheide.

Deshalb warnte Laux auch davor, die Früherkennung zu übertreiben. Gerade das könnten die Erwachsenenpsychiater von ihren Kollegen aus dem Kinder- und Jugendbereich lernen: dass auffälliges Verhalten in der Adoleszenz auch ganz normal sei. "Ein Jugendlicher, der stört, muss nicht krank sein". Nicht jeder Eigenbrötler sei ein Autist, nicht jeder übersprudelnde Kreative ein Bipolarer.

Die Diagnostik ebenso wie Therapie junger Menschen im Übergangsalter erfordere eben spezielle Kenntnisse - ein weiteres Argument für spezielle Stationen, wie sie eben modellhaft in Wasserburg im Herbst dieses Jahres eingerichtet werden soll. Dabei wird es sich um mehr als nur ein paar Betten und Zimmer handeln. Die Ärzte der Modellstation werden Zugriff haben auf ein Labor, eine komplette neuropsychologische Testbatterie, auf Computer- und Kernspintomograph. Neben einer störungsorientierten Psychotherapie, einzeln und in Gruppen, sollen die Patienten dort unter anderem auch alltagspraktische Kompetenzen trainieren, Stresstoleranz etwa und soziale Kompetenz. Gerichtet ist das Angebot an Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von ungefähr 16 bis 20 Jahren, denn davon ist auch der Psychiater Gerd Laux überzeugt: "Die Trennlinie bei 18 Jahren ist künstlich."

Klare Belege für diese Aussage lieferte Dieter Schlamp, stellvertretender Direktor der Heckscher-Klinik am Beispiel von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), an der - je nach Studie - drei bis zehn Prozent aller Kinder leiden. Immer noch wird es von manchen Kritikern als harmloses Zappelphilipp-Problem abgetan. Auch wenn es so manche Fehldiagnose geben mag, der Facharzt für Psychotherapie und Psychiatrie widerspricht diesem vehement: "Es geht nicht darum, lebhafte Kinder zu domestizieren, sondern darum, ein Scheitern im Leben zu vermeiden."

Gerade am Beispiel ADHS zeigt sich erneut, wie sinnvoll der Blick der Psychiatrie auf die ganze Lebensspanne ist. Wie die Zappelei und Unaufmerksamkeit eines einzelnen Kindes zu bewerten ist, darüber lässt sich lange streiten. Doch klare Ergebnisse zeigen neuere Studien, in denen die Lebensläufe von ADHS-Kindern verfolgt wurden. "Sie zeigen, dass ADHS mit erheblichen Problemen im Erwachsenenalter enden kann", warnt Schlamp- mit mehr Abbrüchen und schlechteren Leistungen in Ausbildung und Studium, weniger Erfolg im Berufsleben, mit Probleme im familiären Bereich: Frühschwangerschaften, Beziehungsabbrüchen, Scheidungen.

Deutlich erhöht, so Schlamp, sei langfristig auch das Risiko für psychische Störungen. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung steigt bei Erwachsenen, bei denen im Kindesalter ADHS diagnostiziert worden war, das Risiko für antisoziale Persönlichkeitsstörungen um das Zehnfache, für Substanzmissbrauch um das Vier- bis Achtfache, für affektive Störungen um das Zwei- bis Sechsfache, für Angststörungen auf das Zwei- bis Vierfache.

Auch die eigentliche ADHS-Störung bleibe häufig bestehen, wobei die Symptome einem typischen Wandel unterliegen: Im Schulalter dominieren Ablenkbarkeit, Unruhe, Störverhalten. Im Jugendalter nimmt die Zappeligkeit ab, aber bei 40 Prozent tritt vermehrt aggressiv-dissoziales Verhalten auf. Erwachsene ADHS-Betroffene schließlich leiden oft unter eingeschränkter Selbstorganisation. Immerhin: "Die Symptome bessern sich mit zunehmendem Alter", sagt Schlamp.

Dennoch zeigen diese Daten, dass ADHS nicht mit dem Beginn des Erwachsenenlebens einfach so ausläuft. Zwar wissen das mittlerweile die meisten Erwachsenenpsychiater, aber auch hier gelte es, die Überleitung optimal zu managen und den geeigneten Zeitpunkt für den Betreuungswechsel zu finden. Dieser sollte irgendwann zwischen 18 und 21 Jahren stattfinden, möglichst in einer stabilen Phase und mit Rücksicht auf die Ausbildung. Wichtig sei, dass auch der Erwachsenenpsychiater eine gute persönliche Beziehung zum Patienten aufbaue, denn diese sei entscheidend für die Compliance und damit den Erfolg der Behandlung, resümiert Schlamp: "Es reicht nicht, ein Rezept auszustellen und ein paar Ratschläge zu geben."

Vermutlich noch größere Herausforderungen an die Therapeuten stellen die Patienten, die in der Heckscher-Klinik auf der Station 6 aufgenommen werden, einer geschlossen geführten Abteilung für Suchtkranke.

Was Drogenmissbrauch bedeuten kann, verdeutlichte die Kinder- und Jugendpsychiaterin Adelina Mannhart an einem ihrer schwersten Fälle, einem Jungen, der im Alter von 15 Jahren in die Suchtstation der Heckscher-Klinik eingeliefert wurde, nachdem er acht Wochen lang entgiftet worden war, Diagnose "schwere Mischintoxikation". Dieser hatte seit dem siebten Lebensjahr regelmäßig bis zu 20 Zigaretten täglich geraucht, seit dem 12. Geburtstag drei bis fünf Biere pro Tag getrunken und ab dem 14 Lebensjahr täglich Cannabis geraucht. Außerdem schluckte er Medikamente und drei- bis viermal die Woche unter anderem Amphetamine, Ecstasy, Ketamin, psychogene Pilze und LSD.

Ein Extremfall, dennoch ein Beleg dafür, wie verankert der Konsum von Drogen unter Jugendlichen ist, zumindest bei manchen. Denn Mannhart hatte nicht nur schlechte Nachrichten. So rauchen Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren deutlich seltener, eine leichte Abnahme zeige sich auch beim Alkohol und beim Cannabis, während der Konsum von Amphetaminen und Ecstasy stabil bleibe.

Gefährlich seien aber bestimmte Konsummuster, etwa das Rauschtrinken beim Alkohol oder das sinkende Einstiegsalter bei Cannabis, dieses liegt mittlerweile bei 14 bis 15 Jahren. Das ist der Punkt, wo wieder die Bedeutung des Lebensspannen-Ansatzes klar wird. Neueste Studien zeigten nämlich, dass junges Alter bei der ersten Trunkenheit ebenso wie früher Konsumbeginn bei Cannabis das Risiko für den Missbrauch dieser Drogen im Erwachsenenalter erhöht.

"Das Gehirn in der Adoleszenz scheint wesentlich sensibler auf toxische Einflüsse zu reagieren", sagt Mannhart. Das ist wohl der Grund, wieso Drogenmissbrauch, insbesondere der des vermeintlich relativ harmlosen Cannabis, den Ausbruch einer latenten schizophrenen Psychose befördern kann.

So entstehen dann Störungen, die im stationären Setting der Kinder- und Jugendpsychiatrie kaum noch zu managen seien, klagt Adelina Mannhart: "Die knapp Volljährigen mit fortgeschrittener Suchtkarriere und manchmal hohem Aggressionspotenzial, die vielleicht noch unter einer Psychose leiden, die machen den anderen Kindern und Jugendlichen Angst." In ihrer Lösungsempfehlung folgt die Psychiaterin daher ihren Kollegen: Es brauche Stationen für seelisch kranke Menschen, die keine Kinder mehr sind, aber noch nicht reife Erwachsene.

© SZ vom 04.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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