Psychiatrie:So verrückt darf ein Mensch sein

Klinikpsychiater dürfen Kranke derzeit nicht gegen ihren Willen behandeln. Sie warten auf neue gesetzliche Regelungen - und müssen sich bis dahin einem unfreiwilligen Experiment unterziehen: der Psychiatrie ohne Zwang. Kann so etwas funktionieren? Erfahrungen aus einer Münchner Klinik.

Von Nina von Hardenberg

Als sich die Welt von Erwin Lose verfinsterte, als auch Menschen, die ihm helfen wollten, wie Feinde aussahen, hätte vielleicht eine Zigarette noch alles zum Guten wenden können. Ein Satz wie "Wollen Sie erstmal eine rauchen?", wäre als freundliche Geste zu ihm durchgedrungen und hätte ihn einsichtig gestimmt, glaubt Lose heute. Es gab diese Geste aber nicht. Und so saß der Patient, der hilfesuchend in die Psychiatrische Klinik der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität gekommen war, auf einem Sofa im Behandlungsraum und spürte, wie die Angst in ihm aufstieg, als sich ein Arzt und drei Pfleger in weißen Kitteln vor ihm aufbauten.

Die Angst ist Lose, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, geblieben. Er fühlt sie auch heute noch, wenn er fünfzehn Jahre später in die Klinik zurückkommt - und damit an den Anfang seiner Krankheitsgeschichte mit einer manischen Depression. Lose ist ein großer, breitschultriger Mann. Die schwere Holztür des Gründerzeitgebäudes schiebt er schwungvoll auf, dann aber schaut er sich suchend um, setzt sich auf eine Bank. "Im Hinterkopf bleibt immer die Angst, dass sie mich wieder festschnallen", sagt er. Es war kein guter Anfang.

Der Arzt hielt ihm damals einen Becher hin und sagte: "Trinken Sie das". Lose lehnte ab. Der Arzt forderte ihn erneut auf, und der Patient lehnte wieder ab. Bei der dritten Mahnung nahm er den Becher und schüttete ihn dem Arzt ins Gesicht. Das war für Arzt und Pfleger das Alarmsignal. Sie packten ihn zu viert und schnallten den sich wütend wehrenden Mann mit Gurten an Bauch, Händen und Füßen auf ein Krankenbett. Das Medikament bekam er nun gegen seinen Willen, als Spritze. Danach wollte er gar nichts mehr, erinnert sich Lose. Er zieht die Schultern hoch, winkelt die Arme an, legt den Kopf schief und lässt die Zunge raushängen. "Haldol", sagt er. "Wissen Sie, was das mit Ihnen macht?"

Misstrauen gegenüber Kliniken

Psychiatrische Behandlungen können Menschen von Angst- und Wahnzuständen befreien. Das Medikament Haldol etwa wird trotz der zum Teil erheblichen Nebenwirkungen noch heute in der Psychiatrie gegeben, um akute Krisen zu stoppen. Je früher ein Mensch die Mittel nimmt, desto besser stehen die Chancen für eine Heilung, sagen Ärzte. Darum sei es wichtig, die Menschen zu behandeln, selbst wenn diese das während eines Krankheitsschubs nicht einsehen. Auch bei Lose hat die Behandlung den Wahn beendet. Geblieben ist das Misstrauen gegenüber Kliniken.

Wie viel Zwang dürfen Ärzte ausüben und dürfen sie Patienten auch gegen ihren Willen behandeln? Diese Fragen beschäftigen seit dem Sommer nicht nur Ärzte und Patienten sondern auch den Bundestag. Früher war die Sache klar: Patienten, die ein Richter in eine Psychiatrie eingewiesen hatte, etwa weil sie sich selbst oder andere gefährdeten, durften von den Ärzten mit Zustimmung ihres Betreuers quasi automatisch auch gegen ihren Willen medikamentös behandelt werden. Damit ist vorerst Schluss.

Der Bundesgerichtshof hat im Sommer erklärt, dass für diese Praxis die gesetzliche Grundlage fehle. Nun müssen die Abgeordneten Regeln erarbeiten, die den Kranken klar vor Missbrauch schützen. Es gilt abzuwägen zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der Fürsorgepflicht der Ärzte. Es geht aber auch grundsätzlich um die Frage, wie verrückt ein Mensch sein darf und wie schnell er wieder funktionieren muss.

Ohne Gesetz dürfen die Psychiatrien vorerst gar niemanden gegen seinen Willen behandeln. Sie erproben deshalb unfreiwillig ein Experiment: Die Psychiatrie ohne Zwang. Für Patientenvertreter wie Lose, der sich im Verein der Münchner Psychiatrieerfahrenen engagiert, ist die Situation eine Chance auf Veränderung. Für die meisten Kliniken ist es ein unhaltbarer Zustand.

Was unterscheidet die Klinik von der Haftanstalt?

In einem Besprechungsraum unweit der Station sitzen vier Mediziner in weißen Kitteln und machen ernste Gesichter, als sie die Geschichte ihres ehemaligen Patienten hören. "Eine Behandlung gegen den Willen ist auch für die Ärzte immer eine furchtbare Situation", sagt Cornelius Schüle, der die geschlossene Abteilung leitet, auf der einst auch Lose lag. Die Zeiten hätten sich aber geändert.

Die Medizin nehme Abschied von dem paternalistischen Arzt, der selbstherrlich über die Therapie des Patienten befindet. Die Uniklinik schule ihre Ärzte überdies in Gesprächstechniken, um auch akut wahnhafte Patienten zur Kooperation zu bewegen. Manische Patienten etwa seien häufig extrem gereizt und aggressiv. Wenn Ärzte sich davon aber nicht provozieren ließen, könnten sie manche Krise ohne Zwang entschärfen.

Auf dem Tisch liegt ein dicker Aktenordner, der alles enthält, was die Klinik sich überlegt hat, um mit der neuen Situation fertig zu werden. Dazu gehört auch ein Stapel kleiner blauer Heftchen. Patienten sollen ermuntert werden, für künftige Krisen vorzusorgen und ihre Behandlungswünsche bereits vorab in einem Krisenpass festzuhalten. Darin kann auch stehen, dass ein Mensch gar nicht therapiert werden will. Für die Ärzte wäre ein solcher Wunsch bindend. Auch da habe sich das Bewusstsein gewandelt: "Früher hat man vielleicht noch gesagt: Nimm das Medikament oder Du bekommst es per Infusion", sagt der Leiter der Psychiatrischen Klinik, Peter Falkai. "Heute akzeptieren wir, dass wir nicht jedem helfen können."

Und trotzdem: Ganz ohne Zwang geht es nicht, sind sich die Ärzte an der Uniklinik einig. 1,3 Millionen psychisch kranke Menschen werden jedes Jahr in Deutschland behandelt, etwa 100.000 bis 130.000 davon haben Gerichte gegen ihren Willen eingewiesen. Nur 5000 bis 10.000 unter ihnen lehnen jede Behandlung ab und bekommen die Mittel gegen ihren Willen verabreicht, schätzen Verbände. Gemessen an der Gesamtzahl der Patienten geht es also um wenige Kranke. Ihnen aber gar nicht helfen zu können, ist für die Ärzte, die angetreten sind, um zu heilen, ein schwer erträglicher Zustand. "Was unterscheidet uns dann von einer Haftanstalt", fragt Falkai.

Eine Patienten verweigert im Wahn die dringend nötige Dialyse

Tatsächlich muss die Klinik gerichtlich untergebrachte Patienten, die eine Therapie ablehnen, weiterhin aufnehmen. Stationsarzt Schüle ist auf die geschlossen Station zurückgekehrt, wo auch diese Patienten wohnen. Von einem Überwachungsraum kann er den Gang und den mit Glasfenstern abgetrennten Aufenthaltsraum überblicken. Ein paar Patienten sitzen in Sesseln und lesen oder starren vor sich hin. Monitore zeigen außerdem, was sich in einigen mit Kameras ausgerüsteten Zimmern abspielt. Es gelingt den Ärzten hier gut, so auf die Patienten aufzupassen, dass sie sich nichts antun. Heilen dürfen sie sie ohne deren Zustimmung derzeit aber eben nicht.

Das gilt auch für Patienten, die neben der psychischen Störung an dringend zu behandelnden körperlichen Krankheiten leiden. Schüle zeigt auf eine Zimmertür. Dort liegt ein sterbenskranker Krebspatient mit einem fußballgroßen Tumor am Arm. Die Ärzte würden das Geschwür gerne entfernen, um den Patienten davor zu schützen, dass Gefäße reißen und er womöglich verblutet. Sie dürfen das aber genausowenig, wie sie eine nierenkranke Bewohnerin zur Dialyse zwingen können, die in ihrem Wahn überzeugt ist, die Ärzte wollten sie mit der Blutwäsche vergiften.

Aber rechtfertigen diese Einzelfälle den Zwang als Behandlungsmethode? Nicht alle Mediziner sind davon überzeugt. Einzelne Chefärzte haben in den vergangenen Monaten erlebt, dass der Verzicht auf Zwang das Vertrauen der Patienten gestärkt habe.

Man habe den Kranken gesagt, dass nichts gegen ihren Willen geschehen dürfe, und konnte sie gerade deshalb am Ende alle von einer Therapie überzeugen, schreibt etwa der Chefarzt der psychiatrischen Station eines Regionalkrankenhauses in Heidenheim, das für 135.000 Einwohner die Versorgung übernimmt, in einem Brief an das Justizministerium. Einen wichtigen Unterschied aber gab es: Die Patienten blieben wesentlich länger in der Klinik, statt sechs Wochen waren es etwa drei Monate. Die zwangfreie Klinik, sie ist so am Ende auch eine Frage des Geldes: Wie viel Verrücktheit will sich eine Gesellschaft leisten, und wie viel Abweichung von der Norm verträgt sie?

Zwang nur als letztes Mittel

Erwin Lose war drei Tage lang kräftig von der Norm abgewichen, bevor er schließlich in der Psychiatrie landete. Der Elektrotechniker hatte auf einer Baustelle gearbeitet, die Arbeiten waren im Verzug, der Chef drängte alle zu Sonderschichten. Als der Druck zu groß wurde, blaffte Lose seinen Chef an, beleidigte ihn immer mehr, bis der ihn entließ. Es war der Beginn einer mehrtägigen Kneipentour. Lose erlebte seine erste Manie, einen Zustand puren Glücks, wie ihn gesunde Menschen vielleicht nie erleben. Er fühlte sich mit jedem und allem verbunden, sogar mit den Blättern eines Baumes.

Das Glück endete jäh. Lose war aus einer Laune heraus in ein haltendes Auto eingestiegen und versuchte, den Fahrer zu überzeugen, ihn zum Flughafen zu fahren. Der aber rief die Polizei, die wiederum seine Eltern verständigte. Von den Eltern ließ er sich in die Klinik bringen. Denn bei allem Wahn begriff Lose doch, dass ihm das Leben aus dem Ruder lief. "Man fühlt sich wie ein zu heiß gelaufener Computer. Die Gedanken stürmen zu schnell durch den Kopf", sagt Lose und schüttelt sich ein bisschen, wie um die Gedanken loszuwerden.

Er ist jetzt von der Bank im Eingangsbereich der Klinik aufgestanden, er zeigt den Weg zur geschlossenen Station. Der Flur führt vorbei an einer kleinen Cafeteria. Jeder Platz ist besetzt. Die Psychiatrien müssten sich auch baulich ändern, sagt Lose. Es fehlten Rückzugsräume, die es den Patienten ermöglichten runterzukommen, sich zu beruhigen.

Psychiatrien als Oasen des Rückzugs in einer hektischen, leistungsbesessenen Welt. Pfleger, die einen wie Freunde behandeln, so könnte eine perfekte Welt aussehen, in der es dann auch keinen Zwang mehr geben müsste. Im Verein der Münchner Psychiatrieerfahrenen kämpft Lose für solche Veränderungen. Die meisten Mitglieder sind schon einmal gegen ihren Willen behandelt worden. Nicht alle aber lehnen Zwang radikal ab. Eine Frau etwa berichtet, sie wolle ihren Job nicht verlieren, deshalb habe sie für sich festgelegt, dass die Ärzte ihr im Krisenfall Medikamente geben sollen, notfalls auch gegen ihren Willen.

Wann ist ein Notfall ein Notfall?

Wann aber ist ein Notfall wirklich ein Notfall? Wann steht dahinter vielleicht Personalmangel und Kostendruck? Und welche Hürden könnten Patienten, aber auch Ärzte, vor dem schnellen Griff zur Spritze schützen? Das sind die Fragen, die auch die Abgeordneten des Bundestages beschäftigen.

Der Zwang dürfe nur das letzte Mittel sein, heißt es in dem neuen Gesetz, über das das Parlament am Donnerstag abstimmen soll. Er ist nur erlaubt, wenn dem Patienten ohne Behandlung gesundheitlicher Schaden droht und wenn ein Richter zustimmt. Andere angedachte Schutzmechanismen - wie etwa, dass ein externer Arzt bewertet, ob Zwang wirklich nötig ist - finden sich in dem Text nicht mehr. Manchen ist das zu wenig.

Erwin Lose war seit seinem ersten Aufenthalt in der Uniklinik noch mehrere Male in psychiatrischer Behandlung. Geheilt ist er nicht. Der 52-Jährige ist vor acht Jahren in Frührente gegangen. Er nimmt Medikamente, die ihm helfen, seine Stimmung zu stabilisieren. Gezwungen werden musste er dazu nie mehr, wohl auch, weil er einen Arzt gefunden hat, dem er vertraut.

Die geschlossene Station im Uniklinikum ist mit einer doppelten Glastür versehen. "Die Wildschweinschleuse" nennt Lose sie, weil hier das gleiche Prinzip wie im Tierpark gilt: Die zweite Tür öffnet sich erst, wenn die erste zu ist. So kann niemand entwischen. Als er krank war, wollte Lose raus, heute als Patientenvertreter lässt man ihn - anders als die Journalistin - nicht rein. Dabei gäbe es doch eigentlich so viel zu besprechen.

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