Psychiatrie:Forscher fordern mehr Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge

  • Allein in den Jahren 2015 und 2016 sind geschätzt eine Viertel Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, die eine Behandlung brauchen, um ihre traumatischen Erfahrungen bewältigen zu können.
  • Die Wissenschaftorganisation Leopoldina hat macht Vorschläge, um die Situation der Betroffenen zu verbessern.
  • Ohne Therapie sei Integration kaum möglich, heißt es in der Stellungnahme.

Von Astrid Viciano

Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge

Sicher aufgehoben: Flüchtlingskind in einer Erstaufnahmeeinrichtung.

(Foto: Arne Dedert/dpa)

Was für dramatische Schicksale. Auch wenn man schon viele Erzählungen von Flüchtlingen gehört hat - ihre Schilderungen sind immer wieder erschütternd. Die Geschichte jenes Jungen etwa, der den gewaltsamen Tod seines Vaters in Syrien miterleben musste. Der auf der Flucht nach Europa im Schlauchboot beschossen wurde, mit dem überladenen Gefährt in Griechenland an einem Felsen auflief. Keiner im Boot konnte schwimmen, die Rettungswesten taugten wenig, eine Tante ertrank vor seinen Augen. Der 13-Jährige schaffte es zwar nach Deutschland, kam aber psychisch nicht an. "Diese Menschen hängen in der Vergangenheit fest", sagt Thomas Elbert, klinischer Psychologe an der Universität Konstanz.

Allein in den Jahren 2015 und 2016 sind Schätzungen zufolge eine Viertelmillion Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, die zur Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen professionelle Unterstützung brauchen. "Das ist in der Öffentlichkeit und in der Politik bislang nicht so bekannt", sagt Frank Rösler, Mitglied des Präsidiums der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Berlin. Deshalb hat sie am Dienstag gemeinsam mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften eine Stellungnahme zum Thema veröffentlicht. Der Untertitel "Schnelle Hilfe ist jetzt nötig" unterstreicht, wie dringlich ihr Anliegen ist. Anderthalb Jahre hat ein Expertenteam an den 35 Seiten gearbeitet. Im Detail wird die aktuelle Situation der Flüchtlinge beschrieben. Vor allem aber macht die Leopoldina Vorschläge, ihre Lage zu verbessern.

"Ohne eine Behandlung der Traumata kann keine Integration gelingen", sagt der Neuropsychologe Frank Rösler. Ähnlich wie der 13-jährige Junge haben viele Menschen vor ihrer Ankunft in Deutschland lebensbedrohliche Situationen erlebt. Für diese Menschen lauert fortan überall Gefahr. Die schwer Traumatisierten fühlen sich sogar in ihrer eigenen Bleibe bedroht. Sie müssen in einer Therapie erst wieder lernen, ihre alles beherrschende Angst auf einen streng definierten Kontext zu beschränken, erklärt Elbert.

Die Traumatisierten brauchen Therapie, sonst wird ihr Leiden chronisch

Bereits vor dem ersten Flüchtlingsstrom im Jahr 2015 hätten die Versorgungsstrukturen in der Psychiatrie nicht ausgereicht, sagt der klinische Psychologe. Doch inzwischen sei der Mangel dramatisch groß. Natürlich könnte man theoretisch einfach das Ende der Flüchtlingswelle abwarten, sagt Elbert. Doch würden viele Therapiebedürftige bis dahin chronisch erkranken: "Das ist nicht nur unmenschlich, sondern auch langfristig eine enorme Belastung für das Gesundheitssystem." Schließlich erhöhen psychische Traumata langfristig das Risiko für Autoimmunleiden wie Rheuma ebenso wie für Diabetes Typ 2 und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Zudem entstehe dann in unserer Gesellschaft ein Parallelsystem von Menschen, die von Hartz IV leben müssen und ihre Unzufriedenheit in die Gesellschaft tragen. Gleichzeitig werde die Gesellschaft auch unzufrieden mit dem Lebenswandel dieser Menschen. "Wie aber soll jemand, der dreimal in der Nacht schreiend und schweißüberströmt aufwacht, morgens in einem Sprachkurs geistig etwas aufnehmen können?", fragt der Psychologe. An eine Ausbildung ist dann gar nicht erst zu denken. Daher sehen die Experten durchaus auch wirtschaftliche Gründe, die Situation von Flüchtlingen zu verbessern. Screeningverfahren sollen helfen, ebenso angeleitete Selbsthilfe und Psychotherapie.

Besonders Kinder sollten frühzeitig Hilfe bekommen

Besonders Kinder sollten frühzeitig Hilfe bekommen, fordern Elbert und Kollegen. "Die Gewissheit, dass die Welt gut ist, besser wird und sicher sein kann, wird bei diesen Kindern schon in der Entwicklung zerstört", sagt Elbert. Wenn sie selbst Gewalt erlebt haben, werden sie schnell selbst übergriffig - vor allem, wenn sie sozial ausgegrenzt sind. Einerseits. Andererseits jedoch sei das Gedächtnis in diesem Alter besonders wandelbar, das Gehirn sehr plastisch und therapiefähig.

Dazu müssten aber auch die Eltern erfahren, dass ihr Kind seelisch krank ist und dass es dem Nachwuchs enorm schaden kann, wenn sie in der Erziehung handgreiflich werden - auch wenn es in ihrer Heimat so üblich ist. "Die meisten Flüchtlingseltern sind sehr am Wohl ihrer Kinder interessiert und würden ihr letztes Hemd für sie hergeben", sagt Elbert.

Woher aber soll die Hilfe kommen? Die Leopoldina hat konkrete Vorschläge: Sogenannte Peer-Berater sollen helfen. Als Lotsen sollen sie den traumatisierten Flüchtlingen den Weg durch das Dickicht des Gesundheitssystems weisen. Auch als Trauma-Berater könnten sie arbeiten und - nach einer speziellen Ausbildung - über psychische Erkrankungen informieren. Es wäre sogar denkbar, dass sie an der Behandlung mitwirken. "Damit wollen wir ein niedrigschwelliges Therapieangebot für schwer traumatisierte Menschen schaffen", sagt Rösler.

Ein Großteil der psychisch Kranken wird nicht erkannt

In einer Ambulanz in Uganda hat der Psychologe Elbert bereits Traumaberater eingesetzt, zur Behandlung ehemaliger Kindersoldaten und Sexsklavinnen. "Wir sahen eine deutliche Besserung der psychischen Beschwerden", sagt er. Da es keine Ärzte am Ort gab, arbeitete er zum Beispiel mit Sozialarbeitern oder Lehrern. "Wir konnten dort keine komplette Psychotherapie anbieten, aber begrenzte Problembereiche der Patienten angehen", sagt Elbert.

In Deutschland gibt es bereits ähnliche Modellprojekte, etwa im Landkreis Konstanz, in dem Gesundheitspatinnen Flüchtlinge bei der Therapie begleiten. "Dieses und andere Projekte haben bereits gezeigt, dass der Einsatz von Peer-Beratern auch in Deutschland machbar ist", sagt Elbert.

Auch die Münchner Psychiaterin Stephanie Hinum findet diese Ansätze grundsätzlich positiv. Ein Problem sei allerdings, dass ein Großteil der psychisch Kranken nicht erkannt werde. Und ohne Diagnose gebe es kein Recht auf Behandlung. "Man kann sicherlich sehr effektive und sinnvolle Konzepte erarbeiten", sagt Hinum, die seit Jahren ehrenamtlich für Ärzte der Welt Flüchtlinge betreut. "Doch sehe ich auch die große Gefahr, dass die neuen Konzepte als Feigenblatt für eine mangelnde medizinisch-therapeutische Versorgung genutzt werden."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: