Porträt einer Theaterärztin:Herzinfarkt in Reihe 1

Porträt einer Theaterärztin: 500 Theaterärzte gibt es alleine in Berlin. Christiane Härdel ist eine von ihnen. Geld bekommt sie für diese Arbeit nicht, nur kostenlose Karten.

500 Theaterärzte gibt es alleine in Berlin. Christiane Härdel ist eine von ihnen. Geld bekommt sie für diese Arbeit nicht, nur kostenlose Karten.

(Foto: Kiên Hoàng Lê)

Theaterärztin Christiane Härdel erlebt Dramen ganz eigener Art: Alte Damen, die in der Oper kollabieren oder junge Schauspieler, die sich für ihre Kunst verzehren.

Reportage von Verena Mayer, Berlin

Wenn Christiane Härdel das Deutsche Theater in Berlin betritt, sieht sie nicht nur die Kronleuchter und die goldenen Spiegel. Oder den Vorhang, auf den gerade ein blauer Himmel mit weißen Wölkchen projiziert wird. Härdel muss damit rechnen, dass sich hier Dramen abspielen. Und zwar echte. Christiane Härdel ist Ärztin, sie hat an diesem Abend Dienst am Theater.

Härdel steuert einen Eckplatz in der letzten Reihe an, einen schwarzen Rollkoffer hinter sich herziehend. Der ist bis oben voll mit Notfallmedikamenten. Dazu Hustentropfen, Halspastillen, Sprays oder ein Gel, falls sich ein Schauspieler mal den Fuß verstaucht. Das meiste lässt sich mit einfachen Mitteln kurieren, sagt Christiane Härdel. Aber sie hat auch schon epileptische Anfälle erlebt oder Besucher, denen das Herz stehen blieb. Manchmal gibt es Tote.

Theaterarzt ist kein Job, auf den man beim Beruferaten gleich kommen würde. Und doch sind in ganz Deutschland täglich welche im Einsatz, in Opern, Konzerten, bei Kindervorstellungen und Gala-Abenden. In Berlin empfehlen die Gesundheitsbehörden jedem Theater, das mehr als 200 Plätze hat, einen zu beschäftigen.

Für die Mediziner besteht das ganze Publikum nur aus möglichen Patienten

Christiane Härdel sieht man nicht an, dass sie Ärztin ist. Schwarzer Blazer, schwarzes Top - eine elegante Theaterbesucherin. Nur an den festen Schuhen merkt man, dass sie bei der Arbeit ist. Denn im Notfall muss sie steile Treppen hinabrennen, einen Defibrillator holen oder sich durch Zuschauerreihen zwängen. Wie einmal in der Oper, als während der Vorstellung ein älterer Herr zusammensank. Härdel musste ihn allein aus der Reihe nach draußen wuchten, bis irgendwann die Feuerwehr eintraf.

Im Zuschauerraum geht das Licht aus, ein Schauspieler tritt vor den Vorhang mit dem Wolkenhimmel. Dunkel gekleidet, Hut, Brille. Er beginnt einen Monolog, der "Münchhausen" heißt und davon handelt, was es bedeutet, Schauspieler zu sein. "Er plaudert aus dem Nähkästchen über Theaterinterna", steht im Programmheft. Die Frau mit dem Rollkoffer aus der letzten Reihe hat dazu auch einiges zu sagen.

Vorgespräch im Restaurant des Deutschen Theaters. Hin und wieder läuft ein Schauspieler vorbei, ansonsten sitzen hier Menschen bei einem Glas Rotwein und freuen sich auf einen Theaterabend. Härdel freut sich auch, das sei schon die Voraussetzung für den Beruf. Seit dreißig Jahren macht sie den Job, sie war öfter im Theater als jeder Kritiker. In einem siebenstündigen "Parsifal", in einer "Faust"-Aufführung, die über zwei Tage ging, in Vorstellungen, in denen tausendseitige Dostojewski-Romane auf die Bühne gebracht wurden.

Während Härdel erzählt, mustert sie wie viele Theatergänger die Besucher, die nachher mit ihr in die Vorstellung gehen werden. Allerdings will sie nicht wissen, was die anderen anhaben oder ob Prominente darunter sind. Sondern, ob jemand ungewöhnlich blass und zittrig ist oder vielleicht hochschwanger. Für Theaterärzte besteht jedes Publikum vor allem aus möglichen Patienten.

Und von denen hatte Härdel viele. Besonders an der Oper, wo es oft eng und stickig und das Publikum alt ist. Manche werden bewusstlos, weil sie vorbeugend eine doppelte Dosis ihrer Tabletten gegen hohen Blutdruck genommen haben und dann der Blutdruck in den Keller sackt. Manche trinken aus Angst, im Theater auf die Toilette zu müssen, den ganzen Tag nichts und bekommen es mit dem Kreislauf zu tun.

Es geschah bei den Worten: "Sein oder Nichtsein"

Porträt einer Theaterärztin: Während der Vorstellung im Deutschen Theater Berlin sitzt die Theaterärztin mit einem Notfallkoffer an einem Eckplatz ganz hinten.

Während der Vorstellung im Deutschen Theater Berlin sitzt die Theaterärztin mit einem Notfallkoffer an einem Eckplatz ganz hinten.

(Foto: Kiên Hoàng Lê)

Schlimm ist, was der Schauspieler Lars Eidinger einmal erzählte. Er spielte den Hamlet und sagte gerade "Sein oder Nichtsein", als ein Zuschauer vor ihm zu röcheln und zu keuchen begann. Eidinger dachte erst, der Mann wolle ihn provozieren, dann merkte er, dass der Zuschauer einen Infarkt hatte. Er hörte auf zu spielen, bis der Theaterarzt den Mann so weit versorgt hatte, dass er ins Krankenhaus gebracht werden konnte. Er überlebte, aber es war knapp.

Härdel spricht langsam und besonnen, man merkt, dass sie in ihrem Beruf die Nerven behalten muss. Nichts Menschliches sei ihr fremd, sagt sie. Nur einen Zwischenfall mit einer Schwangeren hatte sie noch nie. "Da warte ich noch darauf, dass ich am Theater ein Kind auf die Welt bringen muss." Oft kommen Leute, die sie an ihrem Koffer erkennen, schon vor der Vorstellung zu ihr und sagen, ihnen tue der Kopf weh oder sie seien beim Zahnarzt gewesen. Und die Frau Doktor solle ihnen doch etwas gegen die Schmerzen geben - als gehöre zum Abonnement ein Arzttermin dazu.

Während einer Vorstellung brach der Dirigent mit einem Herzinfarkt tot zusammen

Und wie ist es auf der Bühne? Wer im Theaterbetrieb unterwegs ist, kennt unzählige Geschichten von Schauspielern, die irgendwo herabstürzen oder sich verletzen, weil die Requisite versehentlich ein Küchenmesser bereitgelegt hat und nicht das Theatermesser, bei dem die Klinge im Griff verschwindet, wenn man zusticht. Manche Schauspieler stehen auf der Bühne so sehr unter Strom, dass sie selbst mit gebrochenen Knöcheln weiterspielen. Härdel sagt, sie selbst werde oft in Garderoben gerufen. Zu nervösen Operndiven, die etwas gespritzt haben wollen, was Härdel aber nur macht, wenn es harmlose Vitamine sind. "Künstler sind hochsensible Wesen, eine falsche Bewegung, ein falsches Wort, und die Vorstellung wackelt. Da muss man Ruhe und Humor haben."

Und da seien noch die Schauspieler, die gesundheitlich angeschlagen sind, weil sie so sehr für ihren Beruf brennen, dass sie nur noch arbeiten. Härdel muss dann immer an Balzacs Roman "Das Chagrinleder" denken. Darin geht es um ein Stück Leder, das Wünsche erfüllen kann, dabei aber schrumpft und mit jedem Wunsch das Leben seines Besitzers verkürzt. "So kommt mir das bei vielen Künstlern vor. Ihre Lebenskraft wird geringer, je mehr sie sich für ihre Kunst verzehren."

Der Husten

Warum in der Oper und im Theater wie wild gehüstelt wird - dazu gibt es viele Theorien. Manche Zuschauer atmen an leisen Stellen unbewusst flach, das reizt den Hals. In vielen Sälen herrscht wegen der besseren Akustik zudem ein trockenes Raumklima, und weil die Akustik so gut ist, hört man jedes Krächzen sofort. Oft ist das Räuspern auch psychosomatisch: gerade, weil man Angst hat zu husten, tut man es. Dagegen helfen banale Mittel: Lutschbonbons mit Thymian oder Salbei. Ein Taschentuch vor dem Mund dämpft zumindest das Geräusch.

Christiane Härdel ist im Hauptberuf eigentlich Neurologin und Psychiaterin, also mit den Vorgängen der Seele beschäftigt. Und die Seele ist ein weites Land, hat der Dramatiker Arthur Schnitzler festgestellt, der selbst Arzt war. Die Abgründe, von denen das Theater handelt, seien ihr vertraut, sagt Härdel. Die schrecklichen, neurotischen Kämpfe, die August Strindberg in seinen Stücken beschreibt. Oder der naiv-kindliche Epileptiker aus Dostojewskis Roman "Der Idiot", der sich von allen das Geld aus der Tasche ziehen lässt und nichts dagegen tun kann, dass seine Verlobte erstochen wird. Die Neurologin Härdel findet, das sei realistisch dargestellt. Wie die Epilepsie die Persönlichkeitsstruktur des Mannes so verändere, dass er den Überblick über sein Leben verliert.

Etwa fünfhundert Theaterärzte versehen ihren Dienst allein in Berlin. Es zu werden ist nicht schwierig, interessierte Mediziner können sich bei den Theatern melden und in eine Liste eintragen lassen. Geld bekommen sie nicht, nur die Karten. Die meisten Kollegen wollen in die Oper, sagt Christiane Härdel, wahrscheinlich wegen des sozialen Prestiges. Und sie glaubt, dass man im Arztberuf einfach das Schöne als Ausgleich braucht. Gerade, wenn man wie sie mit den Tiefen der menschlichen Seele zu tun habe, dann sei etwa ein Konzert "eine Art Katharsis". Ganz klar und wach werde sie dabei, "und alles fällt von einem ab." Wie beim Vater des Philosophen Alexander Kluge. Der war eigentlich Geburtshelfer, liebte aber, wie sein Sohn später erzählte, die Oper so sehr, dass er sich ständig als Theaterarzt einteilen ließ. Setzten irgendwo die Wehen ein, musste sein Sohn in den dunklen Zuschauerraum schleichen und ihn herausholen.

Am Deutschen Theater geht das Licht an. Der Schauspieler verbeugt sich, Christiane Härdel klatscht, bis der Applaus verebbt. Sie wirkt erleichtert. Das Handy in ihrer Tasche hat nicht vibriert, der Arztkoffer blieb ungeöffnet. Eine Kollegin habe 2001 das Schlimmste erlebt, was einem Theaterarzt passieren kann, sagt Härdel. Während einer Vorstellung von "Aida" brach der Dirigent Giuseppe Sinopoli vor seinem Orchester zusammen. Er hatte einen Herzinfarkt, die Ärztin konnte ihm nicht mehr helfen. Härdel sieht den Leuten nach, während sie den Saal verlassen. Die meisten sind jung, es scheint ihnen gut zu gehen. Die Ärztin sagt, sie könne nicht mehr unbefangen ins Theater gehen, selbst wenn sie einmal keinen Dienst hat. Denn heiter ist die Kunst nur für Leute, die nicht wissen, wie schnell es im Leben ernst werden kann.

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