Plötzlicher Kindstod:Streit um das Familienbett

Schlaf

Es ist verlockend, das Baby mit ins Bett zu nehmen. Aber ist es auch sicher?

(Foto: mathias the dread/photocase.com)

Manche Eltern lassen ihre Säuglinge neben sich schlafen. Das sei gefährlich, erklärt eine Gruppe von Wissenschaftlern - und erntet Kritik von Kollegen ebenso wie von betroffenen Müttern und Vätern.

Von Christopher Schrader

Wer daran zweifelt, dass Schlafentzug Folter ist, soll einmal einige Nächte mit einem quengeligen Neugeborenen verbringen. Die Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen, in denen der eigene Körper nach Erholung verlangt, sind erfüllt von einer unvorhersehbaren Abfolge von Schreien, Stillen, Wickeln, Einnicken und Aufschrecken, von quälenden Bäuerchen, quersitzenden Pupsen, ausgespuckten Schnullern, zornigem Brüllen und dem lauten Einfordern von Aufmerksamkeit spätestens von halb sechs an.

Mehrere solcher Nächte in Folge bringen Eltern an die Grenzen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit. In vielen Schlafzimmer beginnt ein erbittertes Eltern-Mikado (wer sich als erster bewegt, hat verloren), in dem meist die Mütter unterliegen, weil ohnehin sie es sind, die dem Kind die Brust geben.

Manchmal - sehr selten - endet eine solche Nacht aber auch mit einer Stille, die die Eltern ihr Leben lang verfolgen wird: wenn das Baby plötzlich nicht mehr atmet. Das ist nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes im vergangenen Jahr 147-mal passiert, bei 673.570 neugeborenen Kindern. Und vielleicht in jedem sechsten Fall lag das Kind in jener Nacht im Elternbett, womöglich weil Mutter und Vater nur so hoffen konnten, etwas Frieden zu finden. Das Risiko ist also sehr klein, aber die befürchtete Tragödie so gewaltig und unvorstellbar, dass sich viele Eltern nervös fragen: Gefährde ich mein Kind, wenn ich es nachts im Elternbett schlafen lasse? Eine aktuelle Studie sollte diese Frage eigentlich beantworten. Stattdessen hat sie die Diskussion nur weiter angeheizt.

Der plötzliche Kindstod, in Fachkreisen Sids genannt (nach der Abkürzung des englischen Begriffs Sudden Infant Death Syndrome), ist immer noch ein rätselhaftes Phänomen. Aus irgendwelchen Gründen versagt bei den Kindern die Atmung, womöglich weil der junge Organismus es nicht schafft, nach einem einigermaßen normalen, vorübergehenden Aussetzer mit lautem Schnaufen das Luftholen wieder zu starten. Womöglich spielt auch das Wieder-Einatmen von ausgeatmeten Kohlendioxid eine Rolle, vielleicht auch ein anfliegender Infekt.

Immerhin kennt die Medizin klare Risiko- und Schutzfaktoren. Stillen senkt die Gefahr deutlich, ebenso wie offenbar das nächtliche Nuckeln an einem Schnuller. Außerdem sollen Eltern darauf achten, dass ihre Kleinen nicht zu warm werden und nicht in Ritzen der Matratze rollen oder von schweren Decken, Kissen oder Kuscheltieren bedeckt werden können. Die Erwachsenen selbst sollten die Nacht neben ihrem Kind nicht im Alkohol- oder Drogenrausch verbringen.

Die zwei größten Risikofaktoren

"Es gibt im Wesentlichen zwei wichtige Risikofaktoren", sagt Gerhard Jorch, Direktor der Universitätskinderklinik Magdeburg: "stark rauchende Eltern und die Bauchlage. Alles andere ist im Vergleich dazu eher unbedeutend." Jorch selbst war Anfang der 1990er-Jahre daran beteiligt, Eltern dringend von der bis dahin sehr beliebten und auch von Ärzten propagierten Bauchlage abzuraten. Es gab eine regelrechte internationale PR-Kampagne, und die Sids-Zahlen sind danach stark gesunken. "So wurden allein in Deutschland etwa 1000 Kinder pro Jahr gerettet", sagt Jorch.

Die offiziellen medizinischen Schriften aber benennen indirekt auch das Schlafen im Elternbett als Risiko. "Lassen Sie Ihr Kind bei sich im Zimmer, aber im eigenen Kinderbett schlafen", zitiert Christian Poets, Jorchs Kollege von der Universität Tübingen, die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Schlafmedizin zur "Prävention des Plötzlichen Kindstods".

Die Leitlinie wurde gerade - unter Federführung von Poets - überarbeitet, aber dieser Passus hat sich nicht geändert, sagt der Arzt. Alle dort genannten Empfehlungen an Eltern "gelten als gesichert", heißt es im Text. Auch in den Niederlanden und den USA wird den Eltern davon abgeraten, das Baby neben sich im Bett schlafen zu lassen. Zumal zu allen anderen Problemen noch die Gefahr kommt, dass sich einer der Erwachsenen im Schlaf auf das Kind wälzt - auch wenn das vermutlich selten vorkommt.

Wie sicher sind die Daten zum Kindstod?

Ob das Schlafen im Elternbett tatsächlich ein unabhängiger Risikofaktor ist, ob damit also Eltern, die ansonsten alles richtig machen, ihre Kinder gefährden, ist in der medizinischen Forschung umstritten. Für solche Probleme ist die Epidemiologie zuständig, jene medizinische Teildisziplin, die aus verstreuten Daten mit statistischen Methoden Trends oder verlässliche Aussagen zu destillieren sucht. Aber gerade die Frage nach Sids und der Gefahr im Elternbett führt die Epidemiologen an ihre Grenzen, was die Qualität und die Wirkung ihrer Ergebnisse angeht.

Im Mittelpunkt stehen zwei Fragen. Erstens: Bleibt eine Gefahr, wenn Eltern ohne irgendwelche anderen Risikofaktoren ihr Kind mit ins eigene Bett nehmen? Und zweitens: Wenn Epidemiologen eine solche Gefahr feststellen und verkünden, wie reagieren darauf junge Eltern?

Die erste dieser Fragen hat kürzlich ein internationales Wissenschaftler-Team um den britischen Statistiker Robert Carpenter zu beantworten versucht. Carpenter ist Mitte 80, lange in Pension, beschäftigt sich aber seit mehr als sechs Jahrzehnten immer wieder mit dem plötzlichen Kindstod. Er hat die Daten von fünf Studien mit insgesamt 1472 schottischen, irischen, neuseeländischen und deutschen Fällen und fast 4700 gesunden Kontrollpersonen neu ausgewertet. Am Ende stand die Antwort, dass das Schlafen im Elternbett auch für gestillte Kinder von nichtrauchenden, nüchternen Eltern eine - wenn auch sehr kleine - Gefahr bedeutet. Gegenüber dem womöglich genetisch bedingten, nicht zu unterschreitenden Zahlen von acht Fällen auf 100 000 Kinder steigere das Elternbett das Risiko auf knapp das Dreifache (BMJ Open, online).

Beenden aber konnte Carpenters Studie die Debatte nicht. Der Tübinger Kinderarzt Christian Poets bescheinigt Robert Carpenter und seiner deutschen Koautorin Mechtild Vennemann vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Münster, "sorgfältig arbeitende Wissenschaftler" zu sein. "Nach den Daten ist das Liegen im Elternbett eine Gefahr", sagt er.

Gerhard Jorch hingegen erwidert: "Da müssen doch nur zwei oder drei Fälle irrtümlich zugeordnet worden sein, und schon kippt die Signifikanz der Aussage." Zu solch einer falschen Zuordnung kann es leicht kommen. Viele Experten warnen, dass manche Eltern eines soeben gestorbenen Kindes wegen ihrer Schuldgefühle nicht wahrheitsgemäß angeben, ob sie in jener Nacht getrunken haben oder ob ihr Kind nicht doch auf dem Bauch gelegen hat.

Robert Carpenter und sein Team haben viel ähnlich gelagerte Kritik einstecken müssen, die Kommentare wurden von der Fachzeitschrift im Internet veröffentlicht. Einer stammt vom deutschen Kinderarzt Herbert Renz-Polster, der auch am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg arbeitet. Er bringt ausgerechnet die Koautorin Mechtild Vennemann gegen die neue Studie in Stellung.

Vennemann selbst hatte im vergangenen Jahr eine ähnliche Auswertung mehrerer Sids-Studien vorgelegt. Auch sie hatte dabei ein erhöhtes Risiko im Elternbett ausgemacht, ebenfalls um einen Faktor von knapp drei. Allerdings zeigt der genaue Blick in die Daten, dass sich für nichtrauchende Mütter statistisch kein erhöhtes Risiko nachweisen lässt.

Außerdem machte es einen Unterschied, ob die Eltern ihr Kind regelmäßig und geplant mit ins eigene Bett nahmen, oder spontan eine Ausnahme gemacht hatten. Im ersten Fall war kein erhöhtes Risiko zu erkennen. In beiden Fällen beruhte die Aussage nur auf einer kleinen Teilmenge der Daten, die eine besondere Analyse zuließen.

Carpenter und Vennemann beharren dennoch auf den Ergebnissen ihrer gemeinsamen neuen Studie. "Wir haben uns das ja nicht einfach gemacht", sagt die Münsteraner Epidemiologin. Carpenter bereitet zurzeit eine Erwiderung vor, in der er die vielen methodischen Einwände gegen die Auswertung zurückweist und die Ergebnisse des Teams verteidigt.

Zum Beispiel sagt er zu dem Vorwurf, in einigen der Datensätze hätten Angaben zum Alkoholkonsum der Mütter gefehlt: "Selbst wenn wir annehmen würden, dass alle Mütter der gestorbenen Kinder in jener Nacht getrunken hatten, aber keine Mutter eines lebendigen Kontrollkinds, würden wir noch einen Effekt sehen. Dann wäre das Schlafen im Elternbett immer noch ein eigenständiger Risikofaktor."

Gefährlich ist das Einschlafen auf dem Sofa

Die Auseinandersetzung mit den Kollegen ist aber nur einer der Konfliktschauplätze für Carpenter. Weitaus heftiger fiel die öffentliche Reaktion aus, vor allem in Großbritannien, aber auch in Deutschland. Unicef, die das Stillen propagierende La-Leche-Liga und viele selbstberufene Experten und Bloggerinnen haben das Ergebnis des Teams geradezu verdammt.

Es habe das falsche Thema gewählt, solle besser die wahren Ursachen von Sids untersuchen - das waren noch die zivilsten Vorwürfe. Andere unterstellten vorsätzliche Datenmanipulation oder politische Motive. Wer davor warnt, dass Kinder im Elternbett schlafen, wird in der Szene gern in die faschistische Ecke geschoben, weil solchen Regimen die Intimität von Mutter und Kind ein Dorn im Auge gewesen sei.

Für manche ist das Familienbett eine Grundsatzentscheidung

Die Schärfe dieser Reaktionen erklärt sich dadurch, dass manche Eltern es als autonome Entscheidung für einen Lebensstil auffassen, ihr Kind mit zu sich ins Bett zu nehmen. Sie verweisen auf Infrarotaufnahmen von schlafenden jungen Frauen, die ihre Babys immer wieder neu positionieren und so vor Gefahren schützen. "Es gibt eine intuitive Beziehung zwischen stillender Mutter und Kind, in der sie sogar ihren Schlafrhythmus synchronisieren", sagt Herbert Renz-Polster unter Berufung auf renommierte Schlafforscher.

Manche Vertreter dieser Meinung überhöhen sie sogar durch einen Hinweis auf die Stammesgeschichte. Seit Entstehung der Menschheit hätten Neugeborene überhaupt nur an der Seite ihrer Mütter die Nächte überleben können. Die Evolution habe das so eingerichtet - was könne also sicherer und natürlicher sein? Robert Carpenter erwidert: "Noch bis vor wenigen Jahrhunderten betrug die Kindersterblichkeit etwa 50 Prozent. Ein sehr kleines Risiko durch das Schlafen neben der Mutter war dagegen unbedeutend und hat sicherlich in der Evolution keine Rolle gespielt."

Doch die Eltern, die sich eine einmal getroffene Entscheidung für den Umgang mit den Kindern nicht ausreden lassen wollen, sind womöglich nur eine Minderheit. Weitaus größer könnte die Zahl der Frauen sein, die ihre Kinder nur im Ausnahmefall zu sich ins Bett holen, wenn ihnen die Energie fehlt, die Babys in die Krippe oder den Stubenwagen zurückzulegen.

Herbert Renz-Polster sorgt sich vor allem, wie sie die Nachricht über die Carpenter-Studie aufnehmen. Denn obwohl der britische Statistiker darauf beharrt, das Team habe gar keine Botschaft über das Verhalten aussenden wollen - das Ergebnis wird vermutlich so aufgenommen.

Für Renz-Polster steht fest: "Wenn die Mütter sich jetzt zum Stillen in der Nacht aufrappeln und in einen Sessel oder auf ein Sofa setzen, wird es für die Kinder wirklich gefährlich." Schläft die Mutter dann nämlich mit dem Kind im Arm und an der Brust ein, kann es leichter in eine Ritze rutschen, wo Stoff von beiden Seiten Mund und Nase zudrückt.

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