P.A.R.T.Y.:Schocktherapie im Schockraum

775 Years Berlin: General Views And Atmosphere

Unter den 15- bis 17-jährigen Verkehrstoten sind knapp 25 Prozent Radfahrer, weitere 40 Prozent Mofa-, Moped- oder Motorradfahrer. Das Präventionsprogramm PARTY soll die Zahl junger Unfallopfer reduzieren.

(Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Wer verhindern will, dass Jugendliche besoffen und bekifft auf der Straße rumdüsen, muss ihnen die Folgen zeigen. Unterwegs mit Schülern, die den blutigen Alltag einer Unfallklinik kennenlernen.

Reportage von Felix Hütten

Da ist dieser Schmerz, so unausstehlich, und er kommt immer wieder hoch in den Gedanken, wenn Christin erzählt, wie sie damals, im September vor drei Jahren, mit ihrem Mofa über das Land zuckelte. Es war Sommer, und Christin hatte nichts vor, außer vielleicht ein bisschen Langeweile zu vertreiben, als der Wagen sie von rechts rammte, Vorfahrt genommen, passiert ja täglich hundertmal.

Nur, dass ihr rechtes Bein zwischen Mofa und Stoßstange zerquetscht wurde. Christin stürzte, ihr Unterschenkel hing nur noch an der Haut, Waden- und Schienbein gebrochen, der Oberschenkel auch. Als der Rettungshubschrauber endlich landete, sagte Christin zum Notarzt, bitte geben Sie mir irgendwas, ich halte diese Schmerzen nicht mehr aus.

Heute, 20 Operationen später, sitzt Christin im Konferenzraum 1 der Münchner Uniklinik rechts der Isar, Jogginghose, Krücken, Lächeln. 24 Schüler lauschen ihrer Geschichte, und Christin muss ihnen erzählen, so bitter es ist, dass der Unterschenkel zwar wieder dran ist, aber niemand weiß, wie lange noch. Nur eine von drei Beinarterien hat den Unfall überstanden. Ob das Gefäß ein Leben lang hält, wer weiß das schon. Wenn nicht: Amputation.

Das also kann passieren im Straßenverkehr, das also ist das Lernziel für die Jugendlichen an diesem außergewöhnlichen Schultag. PARTY heißt das Programm, das in diesem Jahr für Schüler bundesweit an 22 großen Unfallkliniken angeboten wird. Hinter der etwas bemühten Abkürzung versteckt sich das Motto der Unterrichtseinheit: "Prevent Alcohol and Risk Related Trauma in Youth". Frei übersetzt: Wer als Jugendlicher träumend mit dem Roller rumdüst, oder, noch schlimmer, vor dem Fahren trinkt und kifft, riskiert sein Leben, seine Zukunft. Also aufpassen.

Wie Christin verunglücken jedes Jahr in Deutschland etwa 66 000 Jugendliche im Alter zwischen 18 und 24 Jahren im Straßenverkehr. Etwa 450 von ihnen sterben, rechnerisch mehr als ein Todesopfer pro Tag, jeden Tag einer zu viel. Also PARTY, diesmal in München, um genau 9.03 Uhr, die Schüler der Klasse 8b vom Privatgymnasium Holzkirchen tuscheln ein bisschen, gucken ein bisschen, wollen ein bisschen nicht nebeneinander sitzen, als auf der Leinwand drei junge Frauen in den Gegenverkehr rasen, die Fahrerin hat kurz das Handy gecheckt, bumm. Im Saal dann Totenstille, ein paar Schüler halten sich die Hand vor den Mund, guten Morgen.

Die Wissensvermittlung mag hölzern wirken, aber immerhin, die Handys bleiben in der Tasche

Unfallchirurg und PARTY-Lehrer Nikolas Stade fragt keck, was man denn da in dem kurzen Video so gesehen habe, und die Schüler antworten ganz verdattert, na ja, einen schweren Unfall halt. "Woran lag's?", schiebt Stade nach, und die Schüler antworten: Am Handy. "Genau, also immer schön aufpassen." Diese Art der Wissensvermittlung mag etwas hölzern wirken, aber immerhin, die Handys der Schüler bleiben in den Hosentaschen, kein Whatsapp an diesem Vormittag. Laut einer Studie der Allianz sind bei mindestens jedem zehnten schweren Unfall die Fahrer abgelenkt gewesen, oft durch Handy oder Navi.

Stade spricht mit den Schülern über die Grundlagen der Medizin, erklärt, was genau ein Trauma ist, welche Stellen im Körper bei einem Unfall schwer verletzt werden können. Handy, Alkohol, Drogen, Selbstüberschätzung, Übermüdung, die Schüler der 8b kommen schnell auf die Ursachen. Wie das dann in der Praxis aussieht, zeigt eine Fotopräsentation der Münchner Polizei, zu sehen sind demolierte Brückenpfeiler, schwarze Limousinen mit zerquetschem Motorblock, nächste Folie: Das Unfallopfer war Vater, Ehemann, unschuldig. Der Unfallverursacher war jung, männlich, besoffen.

Anschließend wandern die Schüler in Kleingruppen durch das Krankenhaus, sie sehen einen Rettungswagen von innen, sind dabei, wie im Schockraum ein älterer Herr mit Hirnblutung untersucht wird, er ist zu Hause betrunken gestürzt, jetzt beraten die Ärzte, ob man seinen Schädel aufbohren soll oder besser nicht. Auf der Intensivstation liegt ein Fahrradfahrer, auch er ist betrunken und ohne Helm gestürzt, der Schädel gebrochen, Knochensplitter haben sich in die Augenhöhle gedrückt. Als die Oberärztin seine Geschichte erzählt, erstarren die Schüler, manche Jungs stehen noch ein bisschen cooler da, Daumen in der Gürtelschlaufe. Nachfrage bei Niko, 14 Jahre alt, wie machst du das im Alltag so, Helm oder nicht? Antwort: "Kein Helm. Ich denke jetzt aber mal darüber nach."

"Uns ist es wichtig, ohne erhobenen Zeigefinger aufzutreten"

Anfang der Siebzigerjahre starben jährlich mehr als 20 000 Menschen auf deutschen Straßen, 2016 waren es nur noch 3214 Tote. Der Anteil der an Unfällen beteiligten Radfahrer ist jedoch zuletzt gestiegen. Unter den 15- bis 17-jährigen Unfallopfern ist fast jeder vierte Verletzte ein Radfahrer, weitere 40 Prozent fahren Mofa, Moped oder Motorrad.

Das Programm PARTY kommt ursprünglich aus Kanada und wird weltweit angeboten. Es geht um den Kampf gegen die Zahl junger Verkehrstoter, gegen leicht vermeidbare Unfälle. Auch in Deutschland sind junge Fahrer noch immer die am stärksten gefährdete Altersgruppe im Straßenverkehr. Doch ob geplant oder nicht, die Schüler bekommen Einblick in eine Gesellschaft, in der Unfälle nicht nur auf der Straße, sondern auch in der Biografie eines Menschen passieren.

Die 13-, 14-, 15-Jährigen sehen an diesem Vormittag Patienten, die so viele Zigaretten geraucht haben in ihrem Leben, dass die Lunge schon lange aufgegeben hat, so viel Bier getrunken haben, dass der Körper streikt. Auch das sind vermeidbare Unfälle, und wenn man hier auf der Intensivstation in die Gesichter der jungen Menschen blickt, scheinen sie das auch ganz gut zu verstehen.

Christin will weiterhin die Hosen hochkrempeln und zeigen, wie transplantierte Haut aussieht

"Uns ist es wichtig, ohne erhobenen Zeigefinger aufzutreten", sagt Bertil Bouillon, Chef der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Kliniken Köln, der das Projekt gemeinsam mit Kollegen in Deutschland angestoßen hat. Man wolle vielmehr jungen Menschen helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, sagt der Arzt. Also: Fahre ich besoffen und bekifft durch die Gegend, hirnverbrannt mit Vollgas durch die Stadt, ohne Helm auf dem Mofa übers Land - oder nicht?

Das Projekt hatte 2012 in Köln seine Deutschlandpremiere, mittlerweile koordiniert die Akademie der Unfallchirurgie im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie PARTY in fast allen Bundesländern. Über das bundesweite Netzwerk der Unfallchirurgen versuchen Bouillon und seine Kollegen weitere Kliniken dafür zu begeistern.

Wichtige Frage an dieser Stelle an Bertil Bouillon: Viel Aufwand, aber bringt es denn auch was? "Das Programm scheint zu funktionieren", sagt der Arzt, die Rückmeldungen der Schüler, Lehrer und Eltern seien durchaus positiv. Diese Einschätzung bestätigen erste Studienergebnisse, erschienen in den Fachjournalen Trauma und Plos one: Ehemalige PARTY-Teilnehmer in Kanada und Australien waren seltener in Unfälle verwickelt als andere Jugendliche.

Damit man auch in Deutschland belastbare Daten bekommt, hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft eine ähnliche Erhebung gestartet. Zu drei Zeitpunkten, also vor dem Tag in der Klinik, unmittelbar danach und ein halbes Jahr später werden Schüler aus ganz Deutschland befragt und mit einer Kontrollgruppe verglichen. Erste Ergebnisse erwartet man im kommenden Jahr, die These der Studie lautet: Es braucht mehr PARTY in Deutschland.

Spricht man mit den Schülern, zeigt sich: Aus dem "mega langweiligen Tag", den einige der Jugendlichen am Morgen erwartet hatten, wurde eine packende Lerneinheit. Ja, sagen die Schüler, das war gut, das sollten andere Klassen auch machen. Ob sie aber die Schicksale der Patienten mitnehmen und wirklich Nein sagen, wenn sich der beste Kumpel besoffen hinters Steuer setzt, wird sich zeigen müssen.

Christin, die nach ihrem schweren Unfall mittlerweile Rollstuhlbasketball spielt, ist überzeugt, dass ihre Geschichte andere vom Unsinn abhalten kann. Sie will deshalb weiterhin mit Schülern ins Gespräch kommen, ihre Jogginghose vor Schulklassen hochkrempeln, damit junge Menschen sehen, wie transplantierte Haut aussieht, ein Gefühl dafür bekommen, wie eine von Wunden zerfressene Wade schmerzt. Sie will weiterhin Fotos vom Unfallort mitbringen, auf denen man ihr demoliertes Mofa auf der Straße liegen sieht, Fotos von ihrem Bein, wie es nach den Operationen durchlöchert ist von Schrauben, Nägeln und Schläuchen. Denn selbst wenn man alles richtig macht, sagt Christin ganz zum Schluss zu den Schülern - und das ist vielleicht die wichtigste Nachricht dieses Tages -, kann sich das Leben von jetzt auf nachher komplett umkrempeln. Einfach nur, weil andere für einen Moment nicht aufpassen.

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