Zuzahlung für Notdienst:Notstand beim Notarzt

Wer eine Notaufnahme aufsucht, soll nach dem Willen einiger Ärzte künftig eine Gebühr dafür zahlen. Sie soll verhindern, dass Patienten die Ambulanzen weiter wegen Lappalien aufsuchen.

Von Kim Björn Becker

Notaufnahme des Klinikums der Universität München

Wenn er ausrückt, geht es um Sekunden: Rettungswagen vor Münchner Klinik.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Die Rettungswagen fahren jetzt im Viertelstundentakt vor. Es ist Mittwochnachmittag, viele niedergelassene Ärzte haben ihre Praxen bereits geschlossen, doch in der Notaufnahme des Münchner Klinikums im Stadtteil Bogenhausen herrscht Hochbetrieb. Ein Vater hat seine etwa dreijährige Tochter mit dem Auto in die Klinik gefahren, sie hat ein kleines Plastikteil eingeatmet, das steckt jetzt irgendwo in der Nase fest. Der Mann macht sich Sorgen, dass der Fremdkörper in die Luftröhre geraten und seine Tochter ersticken könnte. "Der Arzt ist auf dem Weg", sagt eine Krankenschwester. "Dauert nur ein paar Minuten."

Wenn es nach Thomas Lipp geht, dem Vorsitzenden der Ärztegewerkschaft Hartmannbund in Sachsen, dann sollte die Klinik-Mitarbeiterin an dieser Stelle noch einen weiteren Satz zu dem besorgten Vater sagen: "Das macht dann 20 Euro, bitte."

Lipp fordert, dass sich Notfallpatienten in Zukunft an den Kosten ihrer Behandlung beteiligen sollen. Zehn Euro soll zahlen, wer den Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Ärzte nutzt, 20 Euro gar, wer den Rettungsdienst beansprucht oder die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsucht. Wer von Zuzahlungen zur gesetzlichen Krankenversicherung befreit ist, soll auch ohne Zusatzgebühr behandelt werden. Mit seinem Vorschlag ist der Leipziger Allgemeinmediziner nicht allein. Im Mai legte Lipp dem Deutschen Ärztetag in Frankfurt einen entsprechenden Antrag vor. Die Delegierten hielten die Notfall-Maut für eine gute Sache und haben seine Forderung bekräftigt.

Jeder dritte Fall ist eine Bagatelle, die auch vom Hausarzt behandelt werden kann

Was für manche nach einem schlechten Scherz klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Nicht jeder Patient, der in die Notaufnahme kommt oder einen Rettungswagen ruft, benötigt die dort vorgehaltene Hochleistungsmedizin. In etwa jedem dritten Fall gehe es um Bagatellen, die problemlos auch vom Hausarzt versorgt werden könnten, hat unlängst die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) vorgerechnet. Da die Kliniken für Notfallpatienten nur eine geringe Vergütung erhalten, zugleich aber teure Geräte betreiben und rund um die Uhr Personal beschäftigen müssen, sei die Ambulanz für die Krankenhäuser ein Minusgeschäft. Im Schnitt müssten die Kliniken für jeden Notfallpatienten etwa 88 Euro drauflegen, hieß es. Bei mehr als zehn Millionen Patienten ergebe dies einen Fehlbetrag von einer Milliarde Euro pro Jahr.

Ein "Schweinegeld" werde somit für Patienten ausgegeben, die gar nicht in die Notaufnahme gehören, sagt Thomas Lipp. Die Notdienste würden von Patienten aus "Unkenntnis, Bequemlichkeit und Kostengründen" in Anspruch genommen. Wer nun für eine ambulante Behandlung ins Portemonnaie greifen muss, der überlegt es sich zweimal, ob er mit einer kleineren Schnittwunde abends noch in die Notaufnahme geht oder sie am nächsten Morgen ohne Zuschlag vom Hausarzt versorgen lässt. Am Ende, so die Vorstellung, landen nur noch die in der Krankenhaus-Ambulanz, die sie auch wirklich benötigen: Unfallopfer, Patienten mit Schlaganfall oder Herzinfarkt, Menschen mit gebrochenen Knochen und gerissenen Bändern. Auch für niedergelassene Ärzte wie Lipp brächte die Regelung Vorteile: Sie bekämen mehr Patienten zugeführt, für die sie ihrerseits Leistungen erbringen und abrechnen könnten. Doch darum, das betont der Antragsteller, gehe es ihm nicht.

In Berlin beobachtet man mit Skepsis, mit welchen Ideen die Ärzte die klammen Notaufnahmen sanieren und den niedergelassenen Kollegen mehr Patienten verschaffen wollen. Eine "Strafgebühr" für Notfälle werde es mit der SPD nicht geben, sagte der Gesundheitsexperte der Sozialdemokraten, Karl Lauterbach. "Niemand darf aus Kostengründen unversorgt bleiben", warnte die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Maria Klein-Schmeink. Und Harald Weinberg von der Linksfraktion kritisierte, arme Menschen würden sich von einer Notfall-Gebühr eher von Arztbesuchen abhalten lassen als Wohlhabende.

Die Erinnerungen sind noch frisch, eine Zusatzgebühr für Arztbesuche gab es schließlich schon einmal: Zum Jahreswechsel 2013 wurde die Praxisgebühr nach wenigen Jahren wieder abgeschafft. Sie sollte bewirken, dass die Deutschen, die mit etwa zehn Arztbesuchen pro Jahr im europäischen Vergleich an der Spitze lagen, seltener zum Arzt gehen. Allerdings blieb die erwünschte Steuerungswirkung aus, allein Geringverdiener verzichteten auf Arztbesuche.

Patienten kennen den Unterschied zwischen Notaufnahme und Bereitschaftsdienst nicht

Dass es bei der Notfallversorgung einen Reformbedarf gibt, wird von niemandem bestritten. Allerdings gilt in dieser Frage wie so oft im deutschen Gesundheitswesen: Schuld für die Misere tragen immer die anderen. Die Kliniken zum Beispiel, deren Ambulanzen tatsächlich sehr oft sehr voll sind, sehen das Problem bei den niedergelassenen Ärzten. "Wir sind die erste Anlaufstelle der Bürger", sagt der Hauptgeschäftsführer der DKG, Georg Baum. Die Patienten seien in Not, schließlich müssten sie bei den niedergelassenen Ärzten oft lange auf einen Termin warten - und nähmen dann eben lieber die Abkürzung über die Notaufnahme.

Die niedergelassenen Ärzte wollen die Kritik freilich nicht auf sich sitzen lassen. Die Klage der Kliniken zeige, dass sie "schon jetzt überfordert sind", sagte der Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Roland Stahl.

Und Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU)? Der setzt zunächst bei der Terminvergabe der niedergelassenen Ärzte an. Mitte Juni soll der Bundestag über das Versorgungsstärkungsgesetz abstimmen, darin trägt die Politik den Kassenärztlichen Vereinigungen auf, sogenannte Terminservicestellen einzurichten. Sie sollen es den Versicherten ermöglichen, innerhalb von vier Wochen einen Facharzttermin zu erhalten.

"Humbug" nennt das der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, schließlich stehe Deutschland bei den Terminen im internationalen Vergleich sehr gut da. Darüber hinaus setzt man in der Koalition auf Aufklärung: "Vielen Menschen ist nicht bewusst, welcher Aufwand betrieben werden muss, um die ärztliche Notversorgung rund um die Uhr aufrechtzuerhalten", sagte der Gesundheitsexperte der Union, Jens Spahn. "Bevor wir zu einer Eintrittsgebühr beim Notdienst und all den damit verbundenen praktischen Problemen kommen, müssen wir erst mal besser aufklären und an die Vernunft appellieren".

Manche Mediziner halten es für besser, wenn die derzeit vorhandenen Parallelstrukturen einfach besser miteinander verknüpft würden. Denn viele Patienten unterscheiden nicht zwischen der Notfallversorgung, die durch Rettungsdienste und Notaufnahmen bereitgestellt wird, und dem ebenfalls rund um die Uhr verfügbaren Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Ärzte.

Dass Menschen mit akuten Beschwerden, die aber nicht lebensbedrohlich sind, die Notaufnahmen so häufig aufsuchen, habe viel mit "Unkenntnis, Unsicherheit oder Angst" zu tun, sagt Christoph Dodt. Er leitet die Notaufnahme des Münchner Klinikums in Bogenhausen und ist zugleich Präsident der Deutschen Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA). Dodt ist dafür, die Notfallpraxen der niedergelassenen Ärzte für weniger schwere Fälle verstärkt in die Krankenhäuser zu integrieren. Dann gäbe es zentrale Anlaufstellen, die Patienten könnten gleich richtig zugeordnet werden. Zudem fordert er, dass die Kliniken für die Behandlung von Notfällen mehr Geld erhalten sollen. Die Bundesregierung will die Klinikambulanzen im Zuge der geplanten Krankenhausreform mit 40 Millionen Euro pro Jahr unterstützen, doch den Krankenhäusern genügt das nicht.

Eine andere Lösung hat Dominik Graf von Stillfried, Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung. Eine Einschätzung per Telefon über eine zentrale Rufnummer könnte es erleichtern, die Patienten gleich an die richtige Stelle zu verweisen und so Fehlbelegungen zu vermeiden. Andere Länder hätten damit gute Erfahrungen gemacht, sagt er. Entscheidend sei, dass "niemand davon abgehalten wird, gesundheitliche Probleme ärztlich abklären zu lassen".

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