Medizin:Neue Ära in der Krebstherapie?

Suzanne Topalian

Suzanne Topalian forscht an der Johns Hopkins University in Baltimore, USA.

(Foto: Keith Weller/dpa)

Seit Jahrzehnten versuchen Forscher, das Immunsystem gegen Tumore zu mobilisieren. In den USA haben Krebsmediziner mit neuen Antikörpern sichtbare Erfolge erzielt.

Von Kathrin Zinkant

Es gibt Menschen, denen man ihre Wichtigkeit nicht ansieht. So verhält es sich auch mit der Krebsmedizinerin Suzanne Topalian von der Johns Hopkins University in Baltimore, einer feinen, leisen Amerikanerin, deren freundliches Gesicht alterslos wirkt - und die bis vor kurzem wohl wenigen Menschen außerhalb der Forschung bekannt war. Doch jetzt hat das Wissenschaftsjournal Nature sie zu eine der zehn wichtigsten Persönlichkeiten des Jahres 2014 gekürt.

Wer sie einmal erlebt hat, im November etwa, als sie auf einer Konferenz in Berlin einen Vortrag hielt, weiß warum. Im bis dahin eher heiteren Publikum erzeugte Topalian binnen 15 Minuten eine Mischung aus Betretenheit - und fassungslosem Staunen. Die Forscherin stellte neue Ergebnisse der Immuntherapie gegen Krebs vor, zeigte Fotos und Röntgenaufnahmen von Studienteilnehmern. Und so schockierend die Bilder waren, so klar zeigten sie, wie Tumore und Metastasen von Todgeweihten dahinschmolzen und sogar ganz verschwanden. Es wirkte auf die Zuschauer wie eine Vision. Schwer zu glauben war es dennoch.

Denn der Krebs hat seinen Schrecken nicht verloren: Jeder vierte Todesfall in Deutschland ist einer bösartigen Neubildung zuzuschreiben, mehr als 1,5 Millionen Menschen leben hier mit einer Krebsdiagnose, und noch immer heißt das übliche Therapieschema: Operation. Chemotherapie. Bestrahlung. Zwar haben neue Arzneien Fortschritte gegen vereinzelte Krebsarten erzielt. Von "Durchbrüchen" wollen viele Ärzte und Patienten aber schon lange nichts mehr hören. Und trotzdem, seit einiger Zeit fällt der Begriff wieder häufiger. Immuntherapien sollen dem Krebs auf neue Weise und in vielen Geweben entgegentreten. Demnach können vor allem Antikörper, wie sie der Körper sonst gegen Bakterien oder Viren herstellt, das Immunsystem von Patienten in die Lage versetzen, den Krebs aus eigener Kraft zu zerstören.

Es ist ein heikles Versprechen. Als das Wissenschaftsjournal Science die Immuntherapie schon im vergangenen Jahr zur "Errungenschaft des Jahres 2013" kürte, betonte die Redaktion deshalb, es sei keine leichtfertige Wahl gewesen. Man wolle keinesfalls falsche Hoffnungen schüren. Doch der neue Ansatz gegen Krebs stützt sich auf ein zunehmend solides Fundament. Patientenstudien in zahlreichen anerkannten Fachjournalen haben auf den Onkologie-Konferenzen dieses Jahres weiter Aufsehen erregt. Und im laufenden Jahr wurden immer neue klinische Prüfungen veröffentlicht. Die US-Arzneimittelbehörde FDA ließ im September einen immuntherapeutischen Antikörper im beschleunigten Verfahren für die Behandlung von Melanomen zu, schon im Juni hatte sie einem ähnlichen Präparat einen Sonderstatus verliehen, der die Zulassung erleichtert. Es wird immer deutlicher, dass die Immuntherapie die Krebsmedizin grundlegend verändern könnte - für manche Patienten vielleicht sogar drastisch.

Die Therapie zeigt bei verschiedenen Krebsarten Effekte

"Was sehr wichtig ist: Es geht nicht nur um eine Krebsart, es geht nicht allein um das Melanom. Es laufen jetzt Studien mit immuntherapeutischen Antikörpern gegen Blasenkrebs, Nierenzellkarzinom, Lungenkrebs - und bei all diesen Tumorarten zeigt die Therapie Effekte", sagt der Dermatologe und Hautkrebsexperte Thomas Tüting von der Universitätsklinik in Bonn.

So wie viele Kollegen seines Feldes hält Tüting Antikörper für die aussichtsreichsten Vertreter unter den verschiedenen Ansätzen der Immuntherapie. Dabei ist die Idee nicht grundsätzlich neu. Schon in den Achtzigern hofften Forscher, dem Körper mit Krebsimpfungen einprägen zu können, wie sein Feind, der Tumor, aussieht, auf dass er den Krebs aus eigener Kraft bekämpfe. "Diese Vorstellung hat mich gepackt", erinnert sich Topalian. Man habe gar gehofft, dass der Schutz von Dauer sein würde, also Krebszellen für den Rest eines Menschenlebens erkennen und ausschalten könnte. Also wurden Tumore entfernt, in Zellen zerlegt, bestrahlt, Eiweiße extrahiert, mit stimulierenden Botenstoffen frisiert, mit präparierten Immunzellen aufgerüstet. Operierte Patienten, die meisten von ihnen schon ohne jede Hoffnung, bekamen die vielfältigen Präparationen schließlich als Therapeutikum verabreicht. Doch so einleuchtend das Prinzip war: Es brachte den Patienten nur wenig.

"Wir haben damals nicht in derselben Tiefe wie heute verstanden, was Immunreaktionen auslöst - und viel wichtiger noch, was sie blockiert", sagt Topalian. Erst später erkannten Forscher, dass Krebszellen dem Immunsystem nicht einfach qua Masse entgegentreten, sondern dass sie sich aktiv abschirmen - indem sie Kontrollpunkte oder Checkpoints blockieren, die eigentlich Teil der körpereigenen Abwehr sind. Einer dieser Checkpoints wurde 1991 beschrieben, ein zufällig entdeckter Rezeptor auf T-Zellen, den Killern des Immunsystems: das Molekül CTLA-4. Es erwies sich als "Aus"-Schalter für die potenten Killerzellen. Bindet es an ein passendes Partnermolekül auf einer anderen Zelle, wird die Abwehrreaktion unterdrückt. Der Schalter ist zentral für die Toleranz gegenüber dem eigenen Gewebe. Und diese Selbstregulation ist überlebenswichtig: Mäuse, denen der Schalter fehlt, sterben binnen Wochen an einer überschäumenden Autoimmunreaktion. Blockiert man den Schalter allerdings in normalen Mäusen, die Krebs haben, verschwindet zuerst eines: der Tumor.

Es zeigte sich , dass zahlreiche Krebsarten den CTLA-4-Schalter nutzen, um der körpereigenen Überwachung zu entgehen. Die bösartigen Zellen bieten dem Immunsystem einfach das passende Partnermolekül an. Sobald dieser Partner an den Rezeptor bindet, ist die Immunzelle entmachtet. Das erklärte auch, warum sich selbst ein Tumor wie das Melanom, der vom Immunsystem recht oft erkannt wird, so hartnäckig der Abstoßung entzieht. Binnen weniger Jahre entwickelte Bristol-Myers Squibb einen menschlichen Antikörper namens Ipilimumab, unter Forschern auch weniger zungenbrecherisch "Ippy" genannt. Er blockiert die Blockade des Checkpoints, bindet also an den CTLA-4-Rezeptor, ohne dabei den Schalter umzulegen.

Der entscheidende Unterschied zu anderen Antikörpern und Medikamenten gegen Krebs ist also, dass "Ippy" gar nicht auf den Krebs zielt, sondern auf die gehemmte Abwehr des Patienten. "Wenn wir dann sehen, dass der Tumor schrumpft in den Behandelten, wissen wir: Es ist ihr eigenes Immunsystem, welches das bewerkstelligt - nichts anderes", sagt Topalian. Eine art personalisierte Therapie also, nur in einem anderen Sinne als bislang bekannt.

Nur ein Teil der Patienten spricht auf die Behandlung an

Ipilimumab wurde 2011 für die Behandlung von Melanomen zugelassen, auch in Deutschland. Er gilt als Prototyp der Immuntherapie, bei der Antikörper die Checkpoints im Immunsystem blockieren und damit auch den Schutzschild des Tumors aufheben. Doch wenn die körpereigene Abwehr derart entfesselt wird, geht das nicht ohne Nebenwirkungen ab. CTLA-4 kommt auf Zellen im ganzen Körper vor, die Mehrheit der behandelten Patienten leidet deshalb unter schweren autoimmunen Reaktionen. Viele müssen die Therapie deshalb abbrechen. Inzwischen allerdings haben Forscher weitere Checkpoints gefunden, die weniger universell im Körper verbreitet sind. Mehrere neue Antikörper etwa greifen in einen Mechanismus ein, der Programmed Death 1 heißt, kurz PD-1. Viele Krebszellen besitzen auch für diesen Checkpoint den Schlüssel. Der Rezeptor wiederum findet sich vor allem auf T-Zellen im Umfeld von Tumoren. Antikörper, die sich gegen diesen Rezeptor oder seinen Partner richten, aktivieren das Immunsystem gezielter als Ipilimumab, und wie klinische Studien in diesem Jahr gezeigt haben, wirken manche von ihnen ähnlich gut, bei deutlich milderen Nebenwirkungen.

Und dabei soll es längst nicht bleiben "Wir stehen noch am Anfang dieser Geschichte", sagt Suzanne Topalian. Es bleibe viel über die Signale zwischen Krebszellen und Immunsystem zu lernen. Noch immer spreche nur ein Teil der Patienten auf die verfügbaren Immuntherapien an. "Es sindweniger als 50 Prozent", sagt die Ärztin. "Und wir wollen so nahe wie möglich an die 100 Prozent herankommen." Ein Weg, der derzeit schon für eine Reihe von Tumorarten beschritten wird, ist die Kombination von Antikörpern wie "Ippy" mit anderen Ansätzen aus der Immuntherapie, auch mit den Impfstoffen, die am Schutzschild des Tumors allein meist scheitern. Biomarker im Krebs, wieder Partner des PD-Rezeptors, sollen zudem helfen, Patienten auszuwählen, die besonders empfänglich für die Checkpoint-Blockade sind.

Leider teilen die neuen Immuntherapien einige Nachteile mit anderen modernen Medikamenten. Da ist zum einen der Preis. Schon eine Behandlung mit Ipilimumab, dem nebenwirkungsträchtigen Prototypen, kostet rund 100 000 Euro. Der neuere Antikörper Nivolumab wird etwa genauso teuer sein, und eine Therapie mit dem bereits zugelassenen Pembrolizumab kostete jährlich sogar 120 000 Euro. Wie soziale Gesundheitssysteme diese Summen stemmen sollen, bleibt offen.

Der Preis hängt unmittelbar mit einem zweiten Problem zusammen: der Finanzierung klinischer Studien durch die Hersteller. Suzanne Topalian sagt, eine Prüfung der neuen Therapeutika am Menschen sei ohne das Geld der großen Konzerne unmöglich gewesen, aus den Forschungsinstitutionen heraus ließen sich solche Studien kaum realisieren. Ob das so bleiben muss, darüber wird seit Jahren gestritten. Eine Einflussnahme der Pharmafirmen kann nicht ausgeschlossen werde und erschwert die Bewertung der Studien.

Hinzu kommt, dass gerade Krebsstudien ohnehin selten alle Kriterien der guten Studienpraxis erfüllen. So fehlen in einigen der bislang vorgelegten Studien Kontrollgruppen, die zum Vergleich nur eine Standardtherapie erhalten. Aus Gründen der Menschlichkeit möchte man den meist austherapierten Teilnehmern solcher Studien nicht die letzte Chance nehmen. Doch zugleich eröffnen sich so mehr Möglichkeiten, die Daten in einem besonders guten Licht zu präsentieren, um die Zulassung zu erleichtern.

Dem Optimismus der Mediziner allerdings tun solche Misstöne noch keinen Abbruch. Thomas Tüting etwa ist fest davon überzeugt, dass die schnelle Zulassung weiterer neuer Antikörper zur Immuntherapie auch von anderen Tumorarten eine Frage der Ethik ist. "Es wäre nicht zu verantworten, wenn man einem Sterbenden einen Antikörper verweigert, der ihm möglicherweise das Leben rettet". Dabei seien diese Behandlungen gewiss keine Allheilmittel, die immer wirken, sondern eine Chance, die todkranken Menschen vorbehalten bliebe. Doch der Bonner Dermatologe sieht sein Feld an einem Wendepunkt. "Das dauert alles seine Zeit, aber ich arbeite seit 25 Jahren auf diesem Gebiet und die Immuntherapie gegen Krebs - sie ist gekommen, um zu bleiben."

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