Medizinische Hilfe für psychisch Kranke:Warten bis zum Zusammenbruch

Regelmäßig vergeht ein halbes Jahr und noch mehr Zeit, ehe ein angstkranker oder depressiver Mensch eine Psychotherapie beginnen kann. Die langen Wartezeiten wirken sich für die Betroffenen oft genug verheerend aus - dabei gäbe es genügend Therapeuten.

Fritz Habekuß

Schwarz war das Leben von Claudia Böhringer, ohne Hoffnung, ohne Trost. Einfachste Tätigkeiten wie duschen oder aufstehen wurden zu Herausforderungen. Schlaflos kämpfte sie sich durch die Nächte. Eine Depression machte ihr das Leben zur Hölle. Erst in einer psychiatrischen Klinik schaffte sie es, den Kampf gegen die Krankheit aufzunehmen.

Ein Drittel aller Deutschen leidet an einer psychischen Stoerung

Psychisch Kranke müssen in der Regel auf eine medizinische Behandlung warten. Für manche bedeutet das Jobverlust und monatelange Krankschreibung.

(Foto: dapd)

Heute, acht Jahre später, muss Claudia Böhringer noch immer Medikamente nehmen. Doch sie hat gelernt, mit der Krankheit zu leben, seit sie vor 20 Jahren zum ersten Mal ihre Diagnose bekam: "rezidivierende depressive Störung". Vielleicht hätte sie nicht in eine Klinik kommen müssen, nicht ihren Job verlieren, nicht monatelang krankgeschrieben sein müssen - wenn sie rechtzeitig behandelt worden wäre.

Dabei war sie zwei Mal in ambulanter Therapie, über mehrere Jahre - allerdings musste sie jedes Mal zwölf Monate auf den Beginn der Behandlung warten. "Ich weiß heute gar nicht mehr, wie ich diese Wartezeit überstanden habe", sagt sie rückblickend. Mittlerweile fühle sie sich einigermaßen stabil, erzählt sie, wird aber wohl nie mehr ohne Medikamente leben können.

Geschichten wie die von Claudia Böhringer gibt es eine Menge, denn Wartezeiten von mehreren Monaten sind für psychisch Kranke keine Ausnahme - sondern Normalfall. Im Durchschnitt vergehen rund sechs Monate bis zum Behandlungsbeginn, hat die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) ermittelt. "Wir sind fast in ganz Deutschland unterversorgt", sagt Rainer Richter, Präsident der BPtK.

Dabei gäbe es genügend Psychotherapeuten und Psychiater in Deutschland. Doch nicht jeder erhält eine Zulassung von den gesetzlichen Krankenversicherungen. Der Grund ist eine Richtlinie aus dem Jahr 1999. Sie regelt die Bedarfsplanung. Damals wurde festgelegt, wie viele Zulassungen vergeben werden. Grundlage war das Verhältnis zwischen Psychotherapeuten und Einwohnern, je nach Kreistyp wurde der Ist-Zustand zum Soll-Zustand erklärt. Diese Regelung orientierte sich nicht am Bedarf oder an der Häufigkeit psychischer Krankheiten, sondern war ein rein bürokratischer Akt.

Ruhrgebiet und Ostdeutschland zählen zu den Verlierern der Reform

Großstädte wie Berlin oder Köln schnitten damals gut ab. Auch Städte, in denen Psychotherapeuten ausgebildet wurden, etwa Tübingen oder Freiburg, profitierten. Das Ruhrgebiet oder Ostdeutschland zählten zu den Verlierern der Reform. Das bekommt Andrea Mrazek noch heute jeden Tag zu spüren. Sie ist Präsidentin der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer und hat selbst eine Praxis in Radebeul bei Dresden.

Zwar bekommt man bei ihr innerhalb von drei Wochen einen Termin für ein Erstgespräch - doch danach heißt es warten bis zum Therapiebeginn: neun bis zwölf Monate sind bei ihr die Regel. "Es ist schlimm, wenn die Leute mit einer klaren Indikation vor mir sitzen und ich muss sie abweisen", sagt Andrea Mrazek. "Das geht einem schon nahe. Wir haben zu wenig Möglichkeiten Patienten zu überweisen oder den Sozialdienst mit einzuschalten." Für eine Sitzung nehmen ihre Patienten lange Fahrtzeiten auf sich.

Mrazek hält daher die Konzeption der Bedarfsplanung für veraltet. Neben einer Anhebung der Zulassungszahlen plädiert sie vor allem für mehr Flexibilität: "Es ist wahnsinnig schwierig, eine halbe Therapiestunde abzurechnen. Oder Gruppentherapie." Dabei sei beides sehr effektiv.

Ansätze, die Wartezeit zu nutzen

Gesundheitlich können sich lange Wartezeiten verheerend auswirken. Zwar kann eine Depression im Laufe mehrerer Monate von alleine abklingen. Häufig kehrt die überwunden geglaubte Krankheit jedoch wieder, meist heftiger als zuvor.

Wird eine Depression oder eine Angststörung nicht rechtzeitig behandelt, kann sie chronisch und zur ständigen Last im Leben der Betroffenen werden - wie bei Claudia Böhringer, die seit 20 Jahren mit ihrer Depression ringt. In vielen Fällen sinkt mit zunehmender Wartezeit der Behandlungserfolg bei den Patienten, auch die Motivation geht zurück. Nicht selten treten Depressive dann den so lang ersehnten ersten Termin gar nicht mehr an.

Um das Problem zu lindern, gibt es eine Reihe von Ansätzen, schon die Wartezeit zu nutzen. Dazu zählen einfache Methoden wie Tagebuchführen oder die Lektüre von Ratgebern zu der Krankheit. Sie sollen dem Patienten ein Gefühl für seine Störung geben und ihm vermitteln, dass sein Schicksal kein ungewöhnliches ist.

Vor allem ist die Psychotherapie via Internet zu einem wichtigen Forschungsgebiet geworden: Was in Ländern wie den Niederladen schon längst gang und gäbe ist, steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Doch die Erfolgsmeldungen häufen sich. So laufen etwa an der Leuphana-Universität in Lüneburg Studien, die untersuchen, ob internetbasierte Interventionen die Erfolgschancen der eigentlichen Therapie erhöhen.

Dazu sind ausgebildete Psychologen über das Netz mit Betroffenen in Kontakt, stellen ihnen einfach Aufgaben, bei denen sie über ihre Krankheit nachdenken müssen und geben ihnen binnen kurzer Zeit ein Feedback. Die Vorteile: Der Patient ist nicht räumlich gebunden und flexibel. Außerdem ist die Schwellenangst niedriger. Die meisten dieser Interventionen zielen nicht darauf ab, eine konventionelle Therapie zu ersetzen, sondern zu ergänzen. Bis sie im deutschen Praxisalltag ankommen, werden allerdings wohl noch ein paar Jahre vergehen.

Das Bewusstsein hat sich geändert

Bis dahin wird sich das Problem noch verschärfen, denn der Bedarf an Psychotherapie wächst beständig, vor allem auch deshalb, weil die Menschen es wagen, nach Hilfe zu fragen. Psychische Krankheiten sind längst nicht mehr mit dem sozialen Stigma belegt wie noch vor zwanzig Jahren.

Die öffentliche Debatte hat das Bewusstsein geschärft, auch bei Ärzten. Kam früher ein Patient mit Schlafstörungen und Konzentrationsschwäche zum Hausarzt, war die Therapie nicht selten mit einem Rezept für Schlafmittel beendet. Heute kann er hoffen, dass sein Arzt auch psychische Krankheiten im Blickfeld hat. Nicht zuletzt dieses gesteigerte Bewusstsein hat dazu geführt, dass die Zahl der Diagnosen psychischer Krankheiten und damit verbundener Krankschreibungen in den letzten Jahren stark angestiegen ist.

Studien zufolge leiden knapp ein Drittel aller Deutschen im Laufe eines Jahres an psychischen Störungen. Dass Depression oder Angststörungen längst auch ein volkswirtschaftliches Problem sind, liegt bei mehr als 50 Millionen Fehltagen pro Jahr auf der Hand.

"Nur schlecht verteilt"

Das hat auch der Gesetzgeber erkannt, und zum Anfang dieses Jahres ein neues Gesetz erlassen. Bis zum kommenden Jahr muss der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, die Bedarfsplanung überarbeiten. Darunter fallen auch Anzahl und Verteilung der Zulassungen für Psychotherapeuten.

Am Ende soll eine Richtlinie entstehen, die mehr Flexibilität ermöglicht und die aktuellen Verhältniszahlen überprüft. Mit am Tisch sitzen neben Vertretern von Krankenkassen, Krankenhäusern, Ärzten und Patienten auch Vertreter der Bundesländer. So soll gewährleistet sein, dass die Richtlinie auch auf regionale Unterschiede eingeht. "Die derzeitige Planung ist beileibe nicht bedarfsgerecht. Es steht außer Frage, dass es einen Bedarf, aber auch Verteilungsprobleme gibt", sagt Rainer Hess, der bis Ende Juni dem G-BA vorstand.

Hess merkt aber auch ein Problem an, das auch die Krankenkassen längst erkannt haben: Immer noch sind Groß- und Universitätsstädte im Bundesgebiet im Vorteil. "Wir müssen uns fragen: Wie bekommen wir Psychotherapeuten dahin, wo sie wirklich nötig sind?", sagt Hess.

Aus Sicht des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung liegt genau hier das Problem: "Wir haben absolut betrachtet nicht zu wenige Psychotherapeuten, sie sind insgesamt nur schlecht verteilt", sagt eine Sprecherin des GKV-Spitzenverbandes. "Aus regionalen Verteilungsproblemen lässt sich jedoch kein generelles Versorgungsproblem für die gesamte Republik ableiten."

Eines der wichtigsten Argumente der Krankenkassen-Vertreter ist ein anderes: Sie machen unter den Psychotherapeuten eine Reihe von Vertretern aus, die ihre Zulassung nicht voll ausfüllen. "Viele beantragen die volle Stelle, arbeiten dann aber nur 20 Stunden in der Woche", sagt die Sprecherin des GKV-Spitzenverbandes. Ginge es nach ihr, sollten solche Psychotherapeuten auch nur eine halbe Stelle beantragen.

Lösung bis zum Jahresende

Der Vorwurf, dass ein recht großer Anteil der Psychotherapeuten weit weniger arbeitet als er könnte, ist brisant. Auch kann der GKV-Spitzenverband seine These nicht belegen. "Wir stellen es trotzdem zur Diskussion", sagt die Sprecherin. Für die BPtK ist das eine Anmaßung: "Wie kommen die Krankenkassen dazu, uns Arbeitszeitvorgaben zu machen", empört sich Rainer Richter, "die Kassen tun so, als wären wir ihre Angestellte - aber Psychotherapeut ist ein freier Beruf." Die vorgeschriebenen 20 Stunden, für die sich Psychotherapeuten vertraglich verpflichtet haben, "erfüllen wir ohne Probleme", sagt Richter.

Auch wenn die Debatte im Hintergrund recht hitzig geführt verläuft, wird es bis zum Jahresende eine Lösung geben, die für alle Beteiligen verpflichtend ist. Am wahrscheinlichsten erscheint momentan, dass vor allem ländliche Bereiche gestärkt werden.

Aber selbst wenn die 4000 zusätzlichen Zulassungen verteilt werden, wie es die BPtK fordert, werden auf dem Land nur knapp halb so viele Psychotherapeuten arbeiten wie in der Stadt. Doch auch damit ist das Problem nur entschärft und nicht gelöst - eine Bedarfsplanung, die sich an der tatsächlichen Häufigkeit psychischer Erkrankungen orientiert, ist noch lange nicht in Sicht.

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