Medizin:Arm und stumm

Wo Armut krank macht

Milllionen US-Amerikaner haben keine Krankenversicherung. Sie sind auf ehrenamtliche Ärzte angewiesen, die ihnen helfen - wie dieses Mädchen, das dringend eine Zahnbehandlung braucht.

(Foto: Jelca Kollatsch)

Menschen werden krank, weil sie arm sind - und sie werden arm, weil sie krank sind. Um diesen Kreislauf zu beenden, braucht es mehr als nur gute Ärzte.

Reportage von Felix Hütten

Alles beginnt mit dem Versprechen, den Schmerz zu bekämpfen. Dieser Schmerz ist an manchen Tagen so grausam, er geht tief ins Mark, er lässt die Augen tränen, das Herz pumpen, die Füße zittern. US-Präsident Barack Obama hat dieses Versprechen ausgesprochen, an seine Wähler, ja im Grunde an die ganze Nation: Ich, euer Präsident, kämpfe gegen diesen Schmerz, euren Schmerz, den Millionen Menschen in den USA fühlen: Zahnschmerzen, Nierensteine, gebrochene Arme, entzündete, eitrige Wunden.

Obamacare, so heißt das Versprechen in Form eines neues Gesetzes zur Krankenversicherung, sollte 45 Millionen Menschen von den horrenden Kosten für Ärzte und Medikamente entlasten - es sollte auch armen Menschen Zugang zur Hightech-Medizin einer globalisierten Welt gewähren. Doch noch immer sind in den USA schätzungsweise 29 Millionen Menschen nicht oder nur unzureichend versichert und müssen für jede Behandlung aus der eigenen Tasche bezahlen, wenn sie das Geld denn haben.

Nach Daten der gemeinnützigen Kaiser-Foundation gibt etwa die Hälfte der unversicherten US-Bürger an, sich die Beiträge für eine Versicherung schlicht nicht leisten zu können. Hinzu kommen knapp 44 Millionen eigentlich versicherte Menschen unter 65 Jahren, die Probleme haben, Rechnungen für Medikamente und Ärzte zu begleichen, denn längst nicht jeder Tarif deckt alle Behandlungskosten ab.

Die Zahlen tauchen in den Sterbestatistiken wieder auf, in den USA zum Beispiel hat das reichste Prozent aller Bürger eine bis zu zwölf Jahre höhere Lebenserwartung als das ärmste Prozent. In Deutschland haben arme Menschen eine acht bis zehn Jahre geringere Lebenserwartung als wohlhabende. Überall auf der Welt, auch in reichen Staaten gilt die Regel: Wer arm ist, wird eher krank und stirbt früher.

Arme Menschen fallen durch das Netz der Versicherungen

So haben auch in Deutschland etwa 137 000 Menschen keine Krankenversicherung, die genauen Zahlen kennt niemand, Hilfsorganisationen schätzen die Dunkelziffer auf knapp eine halbe Million Menschen. Und so kommt es, dass außerreguläre Gesundheitsangebote in Industrienationen nötig sind, weil arme Menschen durch das eigentlich so enge Netz fallen - besonders, wenn sie krank werden.

Wie massiv das Problem ist, zeigt eine Befragung des Robert-Koch-Instituts zum Gesundheitszustand der Deutschen. Darin schätzt ein Viertel der 18- bis 79-Jährigen ihren Gesundheitszustand als mittelmäßig bis schlecht ein, wobei auffällt: Je höher die Einkommen, das Bildungsniveau und die berufliche Stellung der Befragten sind, desto seltener klagen diese über gesundheitliche Probleme.

Einer von ihnen, der seinen Zustand als schlecht einschätzt, ist Hermann Werther - dabei lebt er in München, einer der reichsten Städte Deutschlands. Doch sogar hier sind offene Arztpraxen notwendig, um Menschen wie ihn aufzufangen. Werther heißt eigentlich anders, er will seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen, denn noch immer wissen nur wenige Menschen von seinem Geheimnis: Hermann Werther ist nicht krankenversichert. Er tut so, als sei alles in Ordnung - dabei ist sein Leben längst aus dem Lot geraten. Der selbständige Steuerberater führt eine Kanzlei mit einem Kompagnon, anfangs stimmt der Umsatz, seit Jahren aber schon nicht mehr. Seine Frau will sich scheiden lassen, den gemeinsamen Sohn mitnehmen, die Visitenkarte des Journalisten zerknüllt er in der Faust, als er erzählt.

Nach drei Tagen Qual erreicht sein Blutdruck Spitzenwerte

Sein Kollege schlägt vor, die Beiträge für die private Krankenversicherung nicht mehr zu zahlen, komm schon Hermann, so retten wir die Kanzlei. Werther stimmt zu und verdrängt, was soll schon passieren, das Hemd am Bauch spannt arg, der Kopf ist kahl, und vor zwei Jahren, da sind es drei Tage, Montag, Dienstag, Mittwoch, in denen er die Schmerzen nicht mehr aushält. Er windet sich auf dem Sofa, er kann nicht mehr pinkeln, Werther solo, die Ehefrau ist längst weg, der Sohn ist weg.

Mies, denkt Werther, obermies, und nach drei Tagen Qual erreicht sein Blutdruck Spitzenwerte, das Herz pumpt und pumpt. Herr Werther gesteht, so sagt er das heute, zum ersten Mal: Frau Doktor, ich bin nicht versichert, ich kann das alles nicht bezahlen. Es folgen eine Thrombose im rechten Bein, eine Lungenembolie, Schäden an der Niere, zwei Wochen Uniklinik. Die Kosten: rund 4000 Euro.

Hermann Werther hätte womöglich auch mit einem prall gefüllten Konto Nierensteine bekommen - nur wäre er dann zum Arzt gegangen, als die Schmerzen anfingen. Armut macht nicht automatisch krank, aber Armut hat Folgen für die Gesundheit. Und die werden in der Gesundheitsforschung mit einem Mehrebenenmodell untersucht.

Demnach leben Menschen wie Hermann Werther zunächst unter ungünstigen sozialen Bedingungen, die eine Krankheit befördern. Dazu zählen Arbeitslosigkeit und Geldsorgen, Eheprobleme und Konflikte mit den Kindern. Aber eben auch Isolation, das Gefühl, in einer Gesellschaft keine Stimme zu haben.

Dies führt Betroffene häufig auf eine zweite Ebene: Perspektivlosigkeit, Angst und Ausgrenzung können zum Griff zur Zigarette verleiten, zu Alkohol, manchmal zu harten Drogen; der Körper wird ungepflegt, die Ernährung einseitig und ungesund. Die Folge ist auf der dritten Ebene zu beobachten: Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck, Sucht. Eine Ansammlung von Risikofaktoren, die schwere Krankheiten wie Schlaganfälle, Krebs und Herzinfarkte begünstigen.

Die Frage ist: Was kann man tun, damit Menschen gesund bleiben?

Dabei geht es nicht nur um die reine wissenschaftliche Beschreibung eines sozialpolitischen Problems, sondern auch um zwei grundsätzliche Fragen: Welche Möglichkeiten gibt es, kranken und armen Menschen zu helfen, damit sie nicht noch tiefer in die Armut stürzen? Und zweitens: Was kann man tun, damit Menschen gesund bleiben?

Die erste Frage bezieht sich auf Patienten wie den bankrotten Steuerberater Hermann Werther, der, schwer krank und ohne finanzielle Mittel, behandelt werden muss - sonst stirbt er. Offene Arztpraxen versuchen, solche Patienten aufzufangen, Menschen ohne Geld, ohne Papiere, ohne Asyl. Die Arztpraxis open.med der Hilfsorganisation Ärzte der Welt, in der ehrenamtliche Mediziner Hermann Werther alle paar Wochen untersuchen, liegt in München und wird durch Spenden unterstützt. Knapp 500 Menschen suchten im vergangenen Jahr bei open.med Hilfe.

Die zweite Frage hingegen beschreibt die fatale Wechselwirkung zwischen Armut und Krankheit, die für Menschen wie Hermann Werther nur schwer zu durchbrechen ist. Denn ob seine Schulden verhindern, dass er sich versichert oder seine Krankheit verhindert, dass er die Schulden abbaut, er weiß es mittlerweile selbst nicht mehr. Wer krank ist, wird arm, wer arm ist, wird krank, es ist ein Kreislauf ohne Ausstieg.

10 000 Menschen leben hier, viele von Hartz IV

Ein Blick in den Vergleich aller deutschen Bundesländer illustriert diesen Kreislauf noch deutlicher: In Sachsen-Anhalt, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, rauchen mehr Menschen als in anderen Bundesländern, sie sind häufiger übergewichtig und an Diabetes erkrankt, also: In Stendal sterben Menschen etwa fünf Jahre früher als in Starnberg - und, gemessen an der Bevölkerung, überhaupt nirgendwo in Deutschland häufiger an Kreislauferkrankungen. Die hohen Krankheitsraten wiederum begünstigen schlechte Bildung, Isolation, Frustration und Arbeitslosigkeit.

Ein guter Ort, um Antworten auf die Frage zu finden, wie sich dieser Kreislauf durchbrechen lässt, ist Stadtsee, eine Plattenbausiedlung am Stadtrand von Stendal in Sachsen-Anhalt, 10 000 Menschen leben hier, viele von Hartz IV. Es hat im Kiez Aufregung gegeben in den vergangenen Wochen, ein Fernsehbeitrag des MDR über Kinderarmut hat Stadtsee dargestellt, wie es nicht sein will: alles düster, alles grau, Platte, Armut, traurige Kinderaugen. Ein falsches Bild, sagen die Menschen, wir müssen wieder mal herhalten für die typischen Armutsklischees.

Dabei war Stadtsee mal ein Vorzeigequartier, damals in der DDR, als man in den 1980er-Jahren in Stendal ein Atomkraftwerk plante. Stadtsee, das moderne Vorstadtviertel wurde erweitert, Platte um Platte, sozialistischer Wohlstand bedeutete in dieser Zeit Schluss mit Kohleofen und Etagenklo. Dann kam der Fall der Mauer. Das Skelett des Kraftwerks ist heute ein Abenteuerort, und Stadtsee ist zum Symbol der Endhaltestelle Deutschlands geworden.

Das Gift des Stigmas, das Gift der Resignation

Erst kürzlich hat der Prognos-Zukunftsatlas dargelegt, wie es um die Zukunftschancen in Deutschland steht. Stendal ist bei der Bewertung auf dem letzten Platz gelandet. Und weil Armut krank macht, droht Stendal zum Quartier der Kranken von morgen zu werden. Wenn man Kinder aus Stadtsee bittet, ein Haus zu malen, dann zeichnen viele ein großes Rechteck mit vielen kleinen Fenstern, wenn Kinder beim Mittagessen in der Arche Karotten im Essen finden, dann wundern sie sich, denn so etwas fressen doch nur Hasen.

Um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie der Kreislauf zwischen Armut und Krankheit durchbrochen werden kann, konzentrieren sich Konzepte der Gesundheitsförderung auf ein Gift, das in Stendal-Stadtsee, aber auch in vielen anderen ärmeren Bezirken des Landes in die Köpfe der Menschen einsickert. Es ist das Gift des Stigmas, das Gift der Resignation, das krank macht, das Gift, das auch Denis so gut kennt. Der 30-Jährige ist in Stadtsee groß geworden, er war süchtig nach Heroin, dazu Crystal Meth, Alkohol, er war vier mal im Knast, wegen schwerer Körperverletzung, Diebstahl, das volle Programm. Auf der Stirn und am Unterarm verheilen Narben von Stichverletzungen, Heroin macht die Haut grau und fahl, Crystal lässt die Zähne faulen, Denis trägt diese Spuren an seinem Körper. Er will jetzt raus aus der Scheiße, wie er sagt, einen Führerschein machen, vielleicht klappt das mit dem Job als Monteur, er macht jetzt erst einmal ein Praktikum.

Bei ungewaschenen Kindern wächst die Stigmatisierung der Mutter

Damit Menschen wie Denis nicht wieder zu Patienten werden, organisieren Vereine wie "KinderStärken" in Stendal Angebote, um ein bisschen Wind durch die Schluchten der Plattenbauten zu pusten. Es ist schon Herbst geworden in Stendal, und winterliches Grau mischt sich mit dem Beton der Wohnblocks. Doch auf der Ladenzeile, dem Mittelpunkt im Kiez, haben die örtlichen Jugendklubs, die Arche und das Stadtteilbüro Stände errichtet. Es läuft Musik, Kinder toben umher, die Gesichter voller Schminke, es gibt Hamburger und Waffeln, es wird gesungen und getanzt.

Auf dem Spielplatz schaufeln Kinder Sand, eine Mutter mit Kopftuch und langem Gewand sitzt links am Sandkasten, eine Mutter mit Deutschlandtrikot, Nummer 18 auf der Brust, sitzt rechts. Das Ladenzeilenfest will den Menschen in Stendal-Stadtsee zeigen, seht her, es passiert etwas, hier gibt es Angebote, wie zum Beispiel das Familien-Paten-Programm, das auch Nadine nutzt. Nadine ist 32, hat keinen Job und sieben Kinder von drei Erzeugern, wie sie zu den Vätern sagt. Eine ehrenamtliche Patin unterstützt jetzt Nadine bei den Aufgaben des Alltags, zum Beispiel dabei, vier Kinder gleichzeitig zu baden, sie sind zwischen einem und drei Jahre alt.

Das Konzept der Gesundheitsförderung fange genau hier an, sagt Susanne Borkowski, Leiterin von "KinderStärken" in Stendal. Denn bei ungewaschenen Kindern wächst das Stigma gegenüber der Mutter, sie werden zudem eher krank. Beides führe zu Stress, Scham und Isolation und schließlich immer tiefer hinein in einen Scheiterhaufen geplatzter Träume. Das Stichwort der Gesundheitsförderung lautet daher Empowerment. Das heißt: Fokus auf Ebene eins des Mehrebenenmodells. Menschen dürfen nicht resignieren, sie müssen vielmehr das Gefühl bekommen, eine Stimme zu haben, den Eindruck, etwas zu schaffen, jemand zu sein, der einen Wert in der Gesellschaft hat.

Der Stempel muss runter von der Stirn

Der Stempel "arm, abgehängt und Assi", wie sie hier in Stendal sagen, müsse runter von der Stirn, vor allem bei den Kindern. Nicht nur das Minus auf dem Konto mache krank, es ist auch dieser Satz: Du bist ja selbst schuld an deiner Armut - die Menschen hier hören ihn immer wieder, und er lähmt sie, Tag für Tag.

Wer aber aufgibt, sagt Borkowski, der gibt auch seine Kinder auf, die Kinder wiederum werden irgendwann Eltern, und der Kreislauf beginnt von Neuem, allein in Stadtsee könne man das an Hunderten Familien beobachten. Dagegen helfe nur "Health in All Policies", also gesundheitsfördernde Gesamtpolitik, ein Begriff der Gesundheitsforschung. Er betont, dass die Versorgung der Bevölkerung nicht mit Krankenhäusern und Arztpraxen erledigt ist; auch nicht mit gut gemeinten, aber oft wenig erfolgreichen Aufklärungskampagnen für Eltern, die ihren Kindern zum Abendessen Toastbrot mit Ketchup machen.

Das Konzept der Gesundheitsförderung beruht auf der Ottawa-Charta, einem Dokument der Weltgesundheitsorganisation WHO, das wesentliche Handlungsempfehlungen gibt: Menschen sollen mehr Teilhabe in der Zivilgesellschaft bekommen, sie brauchen eine gesunde Lebensumgebung und Unterstützung, ihre Persönlichkeiten zu stärken - letztlich: mehr Chancengleichheit auf allen Ebenen.

Was die Ottawa-Charta abstrakt formuliert, kann man an Denis beobachten, früher Junkie, jetzt Musiker. Seine Hände zittern, sein Gesicht strahlt, es ist nicht der Stoff im Blut, es ist die Aufregung, es ist Freude. Früher, noch vor ein paar Jahren, machten Heroin und Schlägereien Denis bekannt im Kiez. Jetzt reimt er Worte gegen die Sorgen und für die Aufmerksamkeit. Er hat zwei Kinder, Leonie und Jason-Marvin, die bei der Ex-Freundin leben und ihren Vater nur noch selten sehen. Er ist jetzt übrigens auch nicht mehr Denis, er ist jetzt Deman, der Rapper, der bald sein erstes Album veröffentlichen will.

Schon dreimal wollte er fragen, beim Stadtfest, beim Theaterfest vor ein paar Wochen, aber er hat sich nie getraut, sagt er, es sollte einfach nicht sein. Heute aber, nach der Arbeit, ist Denis zufällig am Ladenzeilenfest vorbeigekommen und hat die Bühne gesehen, sie steht vor einem riesigen Wohnblock, zehn Etagen, ein Mann lässt seine Zigarette über die Balkonbrüstung hängen. Das ist seine Chance und er packt sie, nimmt allen Mut zusammen und fragt, darf ich auftreten, bitte, nur ein Lied, ich bin Deman, der Rapper. Und plötzlich steht Denis auf der Bühne, seine Halsschlagader pocht unter seinem Tattoo, die Hose baggy, die Kids nicken im Takt, er greift mit der Hand ans Herz, das Mic unter der Nase und rappt: "Bis zum Schluss werde ich meine Meinung vertreten, denn so wie das hier läuft, ist das kein schönes Leben."

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