Medizin:Schnelle Ritalinpille für Kinder mit ADHS

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Wann sollten Kinder mit ADHS Medikamente bekommen? (Foto: Frank Rumpenhorst/dpa)
  • Bald soll die Verschreibung von Medikamenten für Schulkinder auch bei mittelschwerer Ausprägung der ADHS möglich sein; hier war bisher eine Verhaltenstherapie empfohlen.
  • Bislang galt, dass Kinder nur dann Medikamente gegen eine ADHS erhalten sollen, wenn sie in schwerem Maße hyperaktiv, impulsiv und unkonzentriert sind.
  • Experten bewerten diese Empfehlung kritisch.

Von Christina Berndt

Kinder sollen künftig schneller und leichter Medikamente wie Ritalin gegen das "Zappelphilipp-Syndrom" verabreicht bekommen. Das sieht die neue Behandlungsleitlinie für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vor, die in Kürze erscheinen wird und der SZ bereits vorliegt. Bislang galt, dass Kinder nur dann Medikamente gegen eine ADHS erhalten sollen, wenn sie in schwerem Maße hyperaktiv, impulsiv und unkonzentriert sind. Bald soll die Verschreibung für Schulkinder auch bei mittelschwerer Ausprägung möglich sein; hier war bisher eine Verhaltenstherapie empfohlen, bevor zu Medikamenten gegriffen wurde.

Pillen gegen ADHS sorgen seit Jahren für Zündstoff in der öffentlichen Diskussion. Es darf erwartet werden, dass die neuen Empfehlungen Empörung auslösen werden. "Häufig wird angenommen, dass damit nur lebhafte Kinder ruhiggestellt werden sollen", sagt Tobias Banaschewski, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, der federführende Autor der neuen Leitlinie. "Aber bei einer echten ADHS darf auf eine effektive Therapie nicht verzichtet werden." Und die wissenschaftliche Literatur zeige, dass Medikamente deutlich wirksamer seien als Psychotherapie - und in der Regel gut verträglich.

"Die Kernsymptome sind ohne Medikamente schwer in den Griff zu bekommen"

Zahlreiche Kinderpsychiater und ADHS-Experten teilen diese Einschätzung. Selbst der einst sehr Ritalin-kritische Kinderpsychologe Manfred Döpfner von der Universität Köln hält eine Pharmakotherapie inzwischen in vielen Fällen für einen Segen: "Die Kernsymptome der ADHS, die Hibbeligkeit und Unkonzentriertheit, sind ohne Medikamente schwer in den Griff zu bekommen", sagt Döpfner. Außerdem seien die neuen Empfehlungen immer noch erheblich zurückhaltender, was die Gabe von Tabletten betrifft, als die Praxis in den USA und im europäischen Ausland.

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Es gibt aber auch Gegenstimmen aus der Fachwelt. Die Kinderpsychologin Silvia Schneider von der Universität Bochum zweifelt die Überlegenheit der Medikamente gegenüber der Psychotherapie an. Sie verweist auf eine - allerdings umstrittene - Analyse der Cochrane Collaboration. Vor allem aber bereite ihr Sorge, dass Kinder oft falsche Diagnosen erhielten. Für eine Studie hatte sie vor einigen Jahren Ärzten fiktive Fallbeschreibungen zugeschickt und die Mediziner um Diagnosen gebeten - erschreckend viele Einschätzungen lagen krass daneben. "ADHS wird häufig überdiagnostiziert - auch von Experten", folgert Schneider. Sie fordert klarere Anforderungen, bevor einem Kind der Stempel ADHS aufgedrückt wird.

Auch die Kinderpsychologin Hanna Christiansen von der Universität Marburg weiß von solchen Fällen zu erzählen. Soeben sei ein 13-Jähriger bei ihr gewesen, der seit neun Jahren Ritalin bekomme. Dabei habe der Junge eine Angststörung und keine ADHS. "Es ist immer wichtig, andere mögliche Diagnosen auszuschließen", betont Christiansen. Unkonzentriert und hibbelig ist auch, wer den Kopf voller Ängste hat oder Schwierigkeiten mit dem Lesen. Dramatisch ist dann, dass solche Kinder Medikamente bekommen, die sie nicht brauchen, die Nachteile bringen und die eigentlichen Probleme nicht behandeln.

Selbstverständlich sei es wichtig, die medikamentöse Behandlung mit aller Sorgfalt auszuführen, betont auch Banaschewski: "Das muss individuell dosiert und kontrolliert werden." Manche Kinder vertragen die Therapie nicht; sie leiden dann unter Appetitmangel oder Einschlafstörungen. Auch mit höchsten Anforderungen wird es aber immer eine diagnostische Ungenauigkeit geben. Naturgemäß bleibt Interpretationsspielraum darüber, ob ein Kind "in einem mit seinem Entwicklungsstand nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß" herumzappelt. "Die Grenzen sind nun einmal fließend", sagt Döpfner, "wie bei jeder psychischen Störung."

Und spielt der Zeitgeist nicht auch eine Rolle? Oft heißt es, heutzutage werde ständig von ADHS gesprochen, weil Kinder funktionieren müssten. Früher gehörte der Klassenkasper dazu, heute gelten Hibbeligkeit und Impulsivität als regelrechte Behinderung auf dem Weg zu einem erfolgreichen, erfüllenden Leben. "Ich weiß um das Schindluder, das mit dieser Diagnose mitunter getrieben wird", sagt Martin Holtmann von der LWL-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamm. Aber ein bis zwei Prozent aller Kinder hätten "definitiv eine ADHS". Solche Kinder habe es auch schon vor 200 Jahren gegeben, und sie bräuchten Hilfe: "Eine ADHS falsch zu diagnostizieren, ist ein klarer Verstoß gegen das Kindeswohl", so Holtmann. "Eine ADHS zu übersehen aber auch."

Für die betroffenen Kinder kann die Behandlung jedenfalls eine große Hilfe sein. ADHS zu haben, bedeutet: ständig negativ auffallen, täglich zurechtgewiesen werden, dauernd ein schlechtes Gewissen haben - oft mit einem entsprechend angeschlagenen Selbstbewusstsein. Mit Medikamenten können schwerer betroffene Kinder endlich wieder am sozialen Leben teilnehmen. "Plötzlich werden sie wieder zum Spielen eingeladen, zu Geburtstagen und dürfen wieder zum Fußballtraining kommen", sagt Holtmann. "Es beginnt für sie eine neue Zeit."

© SZ vom 15.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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