Medizin:Psychiatrie: Entwertung hinter verschlossenen Türen

Psychiatrische Klinik auf dem Gelände des Klinikums Schwabing in München, 2013

Ärzte, die Patienten einschließen, wollen sie schützen. Doch ob dies funktioniert, ist fraglich.

(Foto: Catherina Hess)

Nur in der Psychiatrie ist es üblich, Patienten wegzuschließen. Dabei fehlen sichere Erkenntnisse zum Sinn dieser Praxis. Ein Plädoyer für eine offene Psychiatrie.

Gastbeitrag von Karl H. Beine

Die deutsche Psychiatrie wird ihren schlechten Ruf nicht los. Daran haben auch die aufwendigen Kampagnen der vergangenen Jahre gegen die Stigmatisierung seelisch Kranker nichts geändert. Beim Gang zum Psychiater, da treffen wir nicht gern unseren Arbeitskollegen und über einen psychiatrischen Klinikaufenthalt reden wir am liebsten gar nicht. Wenn man mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus liegt, dann schämt man sich nicht auch noch zusätzlich, wohl aber, wenn man wegen einer Depression in eine psychiatrische Klinik muss.

Info

Karl H. Beine, 65, ist Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke und Chefarzt am St. Marien-Hospital in Hamm.

Woran liegt das? Zum einen wohl daran, dass wir - allen Beteuerungen zum Trotz - psychische Krankheiten anders empfinden und bewerten als körperliche Erkrankungen. In ihren Ursachen weitgehend ungeklärt und mit dem hohen Risiko behaftet, chronisch zu werden, machen uns psychische Erkrankungen große Angst. Die ungezählten Witze über "Verrückte", "Trinker" und "Demente" legen beredtes Zeugnis ab von der vordergründig humorigen Variante unserer Angstabwehr.

Zum anderen hat es wohl zu tun mit der Geschichte der Psychiatrie. Sie ist die einzige medizinische Disziplin, die schon einmal ihre eigenen Patienten systematisch ermordet hat. Auch wenn die deutsche Psychiatrie sich mittlerweile ihrer Verantwortung für diese Verbrechen stellt - das vorhandene Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber der Psychiatrie ist tief verwurzelt.

Die weit verbreitete Angst, eines Tages aus nicht recht nachvollziehbaren Gründen hinter geschlossenen Türen in der Psychiatrie zu landen und einer willkürlichen Behandlung ausgesetzt zu sein, ist Ausdruck und Verstärker dieses Misstrauens. So wird die Psychiatrie in der öffentlichen Wahrnehmung nicht von ungefähr vorwiegend mit Freiheitsentzug und Zwangsbehandlung in Verbindung gebracht. Man wirft ihr vor, psychisch kranke Menschen allzu schnell hinter geschlossenen Türen verschwinden zu lassen. Tatsächlich trifft es ja auch zu, dass es nur in der Psychiatrie üblich ist, bestimmte Patienten wegzuschließen. Das passiert in anderen medizinischen Fächern einfach nicht.

Die Psychiatrie selbst tut einiges dafür, Vorbehalte zu bestärken. Im Jahr 2012 gab es 1,2 Millionen Behandlungsfälle mit psychischen Erkrankungen in deutschen Krankenhäusern. In den vergangenen 20 Jahren ist die Anzahl der Zwangseinweisungen in Deutschland um zwei Drittel gestiegen - auf 137 872 im Jahr 2012. Die Unterbringungs-Maschinerie läuft wie geschmiert: Psychiatrie und Justiz arbeiten dabei Hand in Hand.

In den meisten Gerichtsbeschlüssen wird die Notwendigkeit einer "geschlossenen Unterbringung" bescheinigt. Und in den Kliniken hat sich der Automatismus festgesetzt: Unterbringung gleich geschlossene Station. Dabei überlässt der Gesetzgeber es längst der Psychiatrie, mit welchen Mitteln sie eine Unterbringung realisiert.

Bleiben die Türen offen, sinkt die Zahl der Zwischenfälle

Geschlossene Stationen seien unbedingt notwendig - so behaupten die Protagonisten, schon um das Suizid- und das Weglaufrisiko zu verringern. Anscheinend entweichen aber die meisten Menschen aus geschlossenen Stationen während genehmigter Ausgänge. Außerdem gibt es auch auf internistischen und chirurgischen Krankenhausstationen Patienten, die ein erhebliches Suizidrisiko haben - ohne dass jemand dort auf die Idee käme, deswegen die Tür abzuschließen. Gesicherte Erkenntnisse, ob geschlossene Stationen überhaupt hilfreich sind, fehlen weitgehend: Für diese bedeutenden Versorgungsfragen gibt es keine evidenzbasierten Aussagen - ein Armutszeugnis.

Aber es gibt eine ganze Reihe von Beispielen aus ganz Deutschland, die seit Jahrzehnten belegen, dass man in der Psychiatrie auf geschlossene Stationstüren komplett verzichten kann, etwa in Memmingen, Landsberg, Herne, Heidenheim, Hamm. Bleiben die Türen offen, dann sinkt das Weglaufrisiko ebenso wie die Zahl der Zwischenfälle auf den Stationen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass sich die gefühlte Entwertung noch einmal vergrößert, wenn hinter einem psychisch kranken Menschen die Tür zugeschlossen wird.

Atmosphäre der Verzweiflung

Wer kann schon darauf vertrauen, dass geschlossene Stationen gute Genesungsorte sind? Zumal durch die Konzentration von zwangsuntergebrachten Menschen auf einer geschlossenen Station eine Atmosphäre entsteht, in der sich Verzweiflung, Selbstbeschädigungen, fremdaggressives Verhalten und Lautstärke wechselseitig hochschaukeln.

Durch den Türschluss nimmt die ohnehin vorhandene Spannung noch einmal zu. Nicht selten ist zu beobachten, dass zwangsuntergebrachte Menschen mit dem Türschloss auch noch die letzten Hemmungen fallen lassen. Auslöser von Gewalt und Anreiz zum Weglaufen sind nicht selten die geschlossene Stationstür selbst und die autoritäre Verweigerung von Wünschen: Das, was verboten ist, das macht uns gerade scharf.

Gar nicht verständlich ist die verbreitete Praxis, psychisch kranke Menschen mit einem akuten Suizidrisiko auf eine geschlossene Station zu verlegen. Die Suizidgefahr kann nicht gesenkt werden durch geschlossene Stationstüren. Im Gegenteil: Was einzig hilft, ist die kontinuierliche therapeutische Begleitung. Und genau die wird durch offene Stationstüren erleichtert. Ein Mensch, der von Suizidimpulsen gequält ist, empfindet eine geschlossene Station eher als Stigmatisierung und Ausdruck therapeutischer Resignation, denn als Hilfe: Der ohnehin drohende Abbruch der Beziehungen zur Außenwelt bei einem akut suizidalen Menschen wird so noch verstärkt.

Offene Türen dagegen verändern das Verhalten bei allen Beteiligten: Patienten werden durch offene Türen in ihrer Eigenverantwortlichkeit gefördert. Bei den Mitarbeitern wird die Bereitschaft gestärkt, sich ununterbrochen mit dem einzelnen Menschen zu befassen, ihm ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und Akzeptanz für notwendige Begrenzungen zu erreichen. Bei offenen Türen wird ein Patient nicht länger zu einer vordergründigen Anpassungsleistung gezwungen, damit er die Station verlassen kann. Stattdessen müssen Mitarbeiter echte Überzeugungsarbeit leisten, damit der Patient bleibt und die Behandlung akzeptiert.

Eine solche Art der Begegnung zwischen psychiatrisch Tätigen und Patienten ist Grundvoraussetzung für wechselseitiges Vertrauen und Achtsamkeit. Die bisherigen Erfahrungen und der neueste Kenntnisstand zeigen eindeutig, dass die Unterbringungspraxis psychisch kranker Menschen auf geschlossenen Stationen revidiert werden muss: Legen wir also den Schlüssel beiseite.

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