Krebs:"Mama, mir geht's nicht so gut"

Der Kampf gegen Krebs im Kindesalter ist eine Erfolgsgeschichte. Doch kann die Therapie Spuren hinterlassen, im Körper wie in der Psyche.

Von Christiane Löll

"Mama, mir geht's nicht so gut." Meistens bedeutet dieser Satz: Das Kind hat Schnupfen, Bauchweh, keine Lust, zur Schule zu gehen. Für Jule Lang* und ihre Familie jedoch begann im Mai 2014 mit diesem Satz eine schwere Zeit. Die damals 16-Jährige erfuhr von ihren Ärzten, dass sie an Blutkrebs litt, einer Akuten Lymphatischen Leukämie (ALL). Unreife Blutzellen vermehrten sich explosionsartig in Jules Körper und verdrängten die gesunden, die für den Menschen lebensnotwendig sind. Jules Kampf ums Überleben begann, denn ohne Behandlung sterben ALL-Patienten innerhalb weniger Monate.

"Sieben Monate lang bekam ich Infusionen und Spritzen. Ich konnte nicht zur Schule gehen. Eigentlich sollte mein Gehirn bestrahlt werden, weil auch in meinem Nervenwasser kranke Zellen waren. Aber ich habe gut auf die Chemo angesprochen und brauchte die Bestrahlung nicht. Die Therapie verlief streng nach Schema. Ein paar Wochen dieses Medikament, dann ein paar Wochen eine andere Kombination. Was ich alles bekommen habe, habe ich nicht mehr genau im Kopf."

Die Ärzte konnten Jule helfen, mit einem Cocktail aus Kortisonpräparaten und Zytostatika - Medikamente, die Zellen daran hindern, zu wachsen oder sich zu teilen.

Längst ist der Kampf gegen den Krebs im Kindesalter eine Erfolgsgeschichte, die Arzneien werden seit Jahrzehnten eingesetzt. Jedes Jahr erkranken in Deutschland 2000 Kinder neu an Krebs. Überlebte in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht einmal jedes fünfte Kind die ersten fünf Jahre nach der gefürchteten Diagnose, lässt sich der Krebs heute bei drei Viertel der Kinder besiegen. Bei ALL sind es fast 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen.

Wie groß das Risiko ist, hängt von der Grunderkrankung ab

Der Kampf gegen den Krebs kann jedoch Spuren hinterlassen, kann so gravierende Auswirkungen auf den Körper haben, dass sich noch Jahrzehnte später Folgen auftun. Von den Patienten, die vor dem 15. Lebensjahr die gefürchtete Diagnose erhalten, erkranken innerhalb von 30 Jahren 6,6 Prozent erneut an Krebs, so ergaben es die Analysen des Deutschen Kinderkrebsregisters, das seit 1980 Daten zu mehr als 55 000 Patienten gesammelt hat. Und Mediziner schätzen, dass ein Großteil der Kinderkrebs-Patienten in ihrem Leben an Spätfolgen leiden werden, die auf die Therapie zurückzuführen sind - bis hin zu einer Hörminderung, Schäden an Herz, Nieren und Nerven, Störungen der Fruchtbarkeit und brüchigen Knochen. Autoren einer US-Studie berichteten zum Beispiel, dass 30 Jahre nach Therapieende bei 60 bis 70 Prozent der Patienten Spätfolgen bestanden.

Wie groß das Risiko ist, hängt von der Grunderkrankung ab und der jeweiligen Therapie, vom Geschlecht des Kindes und dem Alter, in dem es erkrankt ist. Und auch davon, wann die Kinder behandelt wurden; vor Jahrzehnten waren die Therapien viel aggressiver als heute. "Bei ALL wusste man aber schon in den 1980ern, dass das Gehirn möglichst selten bestrahlt werden sollte, um Spätfolgen wie etwa Hormonstörungen oder Zweittumore zu vermeiden", sagt der Kinderonkologe Thorsten Langer, Leiter der bundesweiten Arbeitsgruppe Spätfolgen (LESS), die Nachsorge-Daten zu krebskranken Kindern analysiert.

Auch mit anderen etablierten Krebsmedikamenten kennen sich Ärzte inzwischen aus, zum Beispiel mit Anthrazyklinen, die den Herzmuskel schädigen können. Nach Anthrazyklin-Gabe ist bei Patienten das Risiko für Herzprobleme 2,5- bis fünfmal so hoch wie in der Normalbevölkerung. "Eine schwere Herzschwäche kann noch 30 Jahre nach Therapieende auftreten, abhängig von der Dosis, die verabreicht wurde", sagt Langer, der am Uniklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck tätig ist.

Daher müssen Ärzte die Medikamente immer wieder neu dosieren und verschiedene Arzneien miteinander kombinieren. Krebskranke Kinder werden heute in Deutschland in Therapieoptimierungsstudien behandelt, um unter anderem die Nebenwirkungen gering zu halten. Auch Jule nahm an einer solchen Studie teil.

Neun Seiten über "Risiken für Langzeitfolgen nach Chemotherapie"

"Ich muss mich gesund ernähren, viel bewegen, weil es sein kann, dass ich durch die Chemotherapie Herzprobleme bekomme. Ich nehme noch an einer anderen Studie teil, da geht es um meine Gelenke. Von meinen Knien, Sprunggelenken und meiner Hüfte werden regelmäßig Aufnahmen gemacht, und da ist festgestellt worden, dass ich Osteonekrosen habe, das heißt, der Knochen ist abgestorben. Deshalb darf ich nicht joggen gehen, muss Stoßbewegungen vermeiden."

Neun Seiten ist der Zettel über "Risiken für Langzeitfolgen nach Chemotherapie" lang, den Jule erhalten hat, so berichtet es ihre Ärztin Barbara Koch. "Wir gehen die Liste mit den Patienten in Ruhe durch, oft auch mehrmals, schauen, welche Therapie sie bekommen haben und was sie nun beachten müssen", sagt die Internistin Koch, die auch die heute 18-jährige Jule in einer Spezialsprechstunde am Universitären Cancer Center Hamburg (UCCH) betreut. Dort widmet sich Koch jungen Erwachsenen bis zum Alter von 39 Jahren, die in der Jugend an Krebs erkrankt sind. "Diese Gruppe von Patienten hat besondere Bedürfnisse", sagt die Ärztin.

Sie kommen frisch aus der Kindermedizin, die vom 18. Geburtstag an rein rechtlich nicht mehr für sie zuständig ist. Und sie sind in einem heiklen Alter, lösen sich vom Elternhaus, haben gar keine Lust, sich mit Krankheit zu beschäftigen. "Dabei ist es besonders für die Prävention von potenziellen Spätfolgen wichtig, auf eine gesunde Ernährung zu achten, wenig Alkohol zu trinken, nicht zu rauchen und Sport zu treiben", sagt Koch. Ähnlich geht es auch Kinderärzten, die chronisch kranke Kinder bis ins Erwachsenenalter behandeln, Diabetiker etwa, Asthmatiker oder Patienten nach Transplantationen. Ein neues Feld der Medizin, die Transitionsmedizin, widmet sich der Frage, wie der Übergang ins Erwachsenenalter gestaltet werden kann.

Kristin Öz* aus Hamburg hat es gleich zweimal erwischt. Die heute 38-Jährige wurde in der Türkei geboren und erkrankte dort 1989 an ALL. Die Familie reiste überstürzt nach Deutschland, um das lebensgefährlich erkrankte Mädchen in Essen behandeln zu lassen. Acht Monate lang war sie in Therapie.

"Ich hatte bisher immer gedacht, dass ich keinen Krebs mehr bekommen kann"

Nach der Leukämie war 25 Jahre lang alles gutgegangen, dann bekam Kristin Öz 2015 Brustkrebs. Ob der bösartige Tumor etwas mit ihrer Leukämie in der Kindheit zu tun hat, weiß niemand. Für Kristin Öz zählt: Sie hat auch diesem Krebs die Stirn geboten. Sie ist wieder in ihren Beruf eingestiegen, ihre Familie ist in ein neues Haus umgezogen, sie selbst hat wieder viel Energie. Aber doch ist einiges anders.

"Ich hatte bisher immer gedacht, dass ich keinen Krebs mehr bekommen kann. Und nun kam er doch und kann vielleicht jederzeit wiederkommen, darüber mache ich mir Gedanken. Aber diese Gedanken kann ich zu Hause nicht teilen, denn dann würden sich meine Mutter, mein Mann und meine Kinder auch wieder Sorgen machen, die Angst um mich hat ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. Einmal war ich bei der Psychoonkologin, sie kann und darf ich mit diesen Sorgen belasten, dass der Krebs wiederkommt. Ein nächster Schritt ist, meinen Mann mit zu einem Gespräch zu nehmen. Ihm wurde gesagt, er solle mich nicht heiraten, weil ich als Kind krank war, ich würde sicher wieder krank werden. Und nun hatte ich tatsächlich wieder Krebs, das ist schwer für ihn. Aber für mich ist entscheidend: Krebs ist eine Krankheit, die besiegbar ist. Und es gibt gute Unterstützungsmöglichkeiten."

Die Psychoonkologin von Kristin Öz arbeitet am UCCH mit der Internistin Barbara Koch zusammen. "Wir sehen das häufig, dass erst nach überstandener Akut-therapie Ängste oder Depressionen auftreten, die Patienten merken, was da mit ihnen passiert ist", sagt Koch.

Wie das "Leben nach Krebs"-Programm am UCCH entstehen derzeit in ganz Deutschland Projekte, um feste Strukturen für die größer werdende Patientengruppe zu schaffen. Es geht um die Prävention von Spätfolgen, aber auch darum, mehr Erkenntnisse über die Bedürfnisse der ehemals jungen Krebspatienten zu sammeln. Und sie nach der regulären Nachsorge, die nach einigen Jahren endet, nicht allein zu lassen. "Gerade wenn die Nachsorge mit Blick auf einen möglichen Rückfall zu Ende ist, können Probleme auftreten, mit denen man vorher nicht gerechnet hat", erzählt Rebecca Kampschulte vom Netzwerk für onkologische Fachberatung (NOF) in Hannover.

Jule will sich nicht verrückt machen lassen von der Angst

Ein Patient zum Beispiel, der Ärger mit dem Arbeitsamt hat, weil er als geheilt gilt, sich wegen einer deutlich verminderten Leistungsfähigkeit aber nicht arbeitsfähig fühlt. Oder eine Patientin, die in der Jugend eine Schädelbestrahlung erhielt und jetzt im Studium unter Konzentrationsschwierigkeiten leidet. Sie könnte einen Nachteilsausgleich beantragen - der dient dazu, Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten die gleichen Bildungschancen zu geben. "Dann hätte die Patientin mehr Zeit als die anderen, ihre Klausuren zu schreiben. Doch muss man wissen, wie man so einen Antrag schreibt und durchboxt", sagt Kampschulte.

Das Modellprojekt startete vor mehr als drei Jahren, zweimal in der Woche gibt es eine offene Telefonsprechstunde. Ein Ziel: Im Flächenland Niedersachsen Experten aufzutun, an die sich die Patienten "wohnortnah" wenden können. Fast 300 Anfragen haben die Mitarbeiterinnen bisher bearbeitet, oft hören sie von ehemaligen Patienten, dass sie kaum Kraft haben, ihren normalen Alltag zu meistern, sich von ihren Ärzten oder Therapeuten nicht ernst genommen fühlen. "Wir hatten mit viel mehr medizinischen Fragen gerechnet", sagt Rebecca Kampschulte.

Ähnliche Erfahrungen haben auch die Experten bei KONA gemacht, die Abkürzung steht für "Koordiniert Nachsorge", die seit 2003 in München Familien mit krebskranken Kindern unterstützen. Die Sozialpädagogin Petra Waibel war von Beginn an dabei, zuvor hatte sie in der Onkologie einer Klinik gearbeitet. "Wenn man die Familien aus dem Krankenhaus entlässt, dann weiß man, dass viele Probleme und Fragen bleiben. Aber man muss sich ja wieder den neuen Patienten widmen."

KONA kümmert sich zum Beispiel darum, dass die Rückkehr an die Schule gelingt, hilft bei der Suche nach einem Beruf, den sie auch mit Spätfolgen ausüben können. Oder vermittelt eine Psychotherapie. Und weil die Berater von KONA die Kinder oft lange begleiten, fallen ihnen auch andere Folgen der Therapien auf. ALL-Patienten etwa bekommen ein Medikament ins Nervenwasser gespritzt, wenn sie nicht bestrahlt werden. "Wir sehen, dass dann oft Schulprobleme auftauchen. Aber es fehlen gute Untersuchungen dazu", sagt Waibel.

Jule will sich nicht verrückt machen lassen von der Angst vor Spätfolgen. Im Juni 2016 hat sie ihre letzte Tablette genommen. Sie hat ihr Abitur trotz allem im Zeitplan geschafft. Beim Lernen half ihr während der ersten sieben Monate unter anderem ein Hauslehrer, der im Bundesland Hamburg in solchen Fällen gestellt wird. Während dieser Zeit sei es anstrengend gewesen, sich lange zu konzentrieren, sagt sie, und so teilte sie sich die Tage nicht wie beim klassischen Schulunterricht mit sieben Stunden am Stück ein, sondern in mehreren Etappen.

Nach den sieben Monaten ging sie wieder zur Schule, auch wenn sie nachmittags oft sehr müde war. "Ich wollte aber nichts verpassen", sagt Jule. Ende vergangenen Jahres verbrachte sie mit ihrem Vater fünf Wochen in den USA, ein lang ersehnter Traum von ihr. Nun möchte sie bald anfangen, Medizin zu studieren.

"Manchmal weiß ich nicht, was ich sagen soll über mich: Ich hatte Leukämie oder ich habe Leukämie? Richtig krank bin ich ja nicht, aber 100 Prozent gesund kann ich mich nicht nennen, hat eine Ärztin zu mir gesagt. Das ist aber eine blöde Aussicht. Deshalb sage ich: Ich bin gefühlt gesund.

* Namen geändert

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