Medizin:Getöse um neues menschliches Organ

Medizin: Lunge, Herz, Leber und Darm - und was ist mit den übrigen Bestandteilen des Körpers? Wann menschliches Gewebe als eigenes Organ gilt, ist erstaunlich unklar.

Lunge, Herz, Leber und Darm - und was ist mit den übrigen Bestandteilen des Körpers? Wann menschliches Gewebe als eigenes Organ gilt, ist erstaunlich unklar.

(Foto: imago)

Mediziner wollen im Bauchraum ein neues Organ ausrufen, das "Gekröse". Doch manche Fachleute sprechen von einem Marketing-Gag.

Von Werner Bartens

Das Gekröse will selbständig werden. Dazu ist es hilfreich, nicht bloß als Anhängsel - in diesem Fall besser: Aufhängsel - bezeichnet zu werden, an dem der Darm befestigt ist. Was liegt da näher, als das von Medizinern Mesenterium genannte Gewebe als eigenes Organ zu definieren? Das fordern die Chirurgen Calvin Coffey und Peter O'Leary im Fachblatt Lancet Gastroenterology and Hepatology. Schon wird die Sensation gewittert: Wie kann es sein, dass Mediziner zwar in molekulare Strukturen vordringen, aber glatt ein ganzes Organ übersehen? Noch dazu ein so großes, das seit Ewigkeiten in breiten Lappen in der Bauchhöhle hängt?

Übersehen hat niemand etwas. Jeder Medizinstudent, der den Präparier-Kurs besucht hat, kennt das Mesenterium als weiche Masse, die erstaunlich zäh sein kann, wenn man sie abtrennt. Und zweifellos verfügt das Gekröse über Blutgefäße, Nervenfasern, Lymphbahnen und - je nach Bauchumfang des Besitzers - mehr oder weniger starke Fettpolster. Damit trägt es zur Apfel-Silhouette der Übergewichtigen bei, die vor allem durch intra-abdominelles Bauchfett geformt wird. Die Polster finden sich innerhalb der Bauchhöhle - angelagert an Mesenterien und das "Große Netz". Diese Fettschürze, die wie eine Decke über den Gedärmen liegt, könnte mit ähnlicher Berechtigung wie das Gekröse einen Status als Organ erstreiten wollen.

"Nach bisheriger Vorstellung zeichnen sich Organe durch eine klare anatomische wie funktionelle Einheit aus", sagt Felix Beuschlein, Hormonexperte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Das ist im Fall des Mesenteriums nicht gegeben, hier geht es wohl eher um einen Marketing-Gag." Zwar ist es verständlich, wenn Doktoren faszinierende Eigenschaften ihres Forschungsgegenstandes entdecken. Zudem lassen sich womöglich Fördermittel für bisher wenig beachtete Regionen einwerben. "Funktionelle und anatomische Eigenheiten rechtfertigen für das Mesenterium den Status des Organs", schreiben Coffey und O'Leary. In ihrem Artikel zeigen sie, wie das Gekröse Darmschlingen daran hindert, in das Becken zu fallen, warum es Verdauungsbewegungen ermöglicht, Stoffe zur Entzündungsbekämpfung herstellt und an Reparaturvorgängen im Körper beteiligt ist. Ähnliche Zuschreibungen gelten aber auch für andere Gewebe, die keinen Organstatus haben.

Organe galten laut Grimm'schen Wörterbuch als abgegrenzte Strukturen wie etwa die Milz, die zu den "inneren theilen des menschen" gehört, "denen die verarbeitung der speise und die blutbildung obliegt". Nur die Begriffe "herz, galle, niere reichen weiter zurück". Später wurden kleine Organe wie Thymus, Nebenschilddrüse, Nebennieren oder das Gleichgewichtsorgan im Innenohr entdeckt. Da es mit dem Erstarken der Wissenschaft im 19. Jahrhundert immer mehr Varianten anatomischer Bezeichnungen gab, einigten sich Mediziner 1895 auf die Basler Nomina Anatomica, die 1935 in Jena und 1955 in Paris aktualisiert wurden. Bis heute gültig sind die 1998 beschlossenen Terminologia Anatomica.

"Vielleicht ist der Organbegriff in der modernen Medizin schwierig und überholt"

Von diesen anatomischen Festlegungen unbeeindruckt bleiben jedoch klinisch tätige Mediziner und vor allem Wissenschaftler. Schließlich gibt es überall im Körper funktionales Gewebe, das am Stoffwechsel teilhat, Hormone produziert und von Blut und Lymphe durchströmt wird. Und weil das so ist, spielt nahezu jeder Körperteil auch bei einer Krankheit eine Rolle. Die Beteiligung des Mesenteriums an entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn ist sicher, welche Bedeutung das Gekröse spielt, ist hingegen nicht geklärt.

Doch nur weil Ärzte verschiedener Fachgebiete entdecken, dass im Organismus so ziemlich alles mit allem zusammenhängt, müssen nicht gleich weitere Organe ausgerufen werden. "Vielleicht ist der Organbegriff in der modernen Medizin schwierig und überholt", sagt Hormonexperte Beuschlein. "Es geht um funktionelle Zusammenhänge." So haben Organe der sogenannten Hypothalamus-Nebennieren-Gonaden-Achse, von denen die Stimulation, Bildung und schließlich Wirkung der Geschlechtshormone gesteuert wird, viel mehr miteinander zu tun als beispielsweise die Nachbarpärchen Niere und Nebenniere oder Schilddrüse und Nebenschilddrüse. "In der Nebenniere erfüllen Mark und Rinde unterschiedliche Aufgaben und Funktionen", sagt Beuschlein. "Trotzdem kam bisher niemand auf die Idee, für beide einen eigenen Status als Organ zu fordern."

Genügend Möglichkeiten für weitere Organe gibt es. Haut, Blut und Lymphe wird schon lange ein organähnlicher Status zuerkannt. Fett ist ebenfalls ein Favorit. Es steht zwar in einem schlechten Ruf, aber seine vielfältigen Funktionen im Stoffwechsel und Hormonhaushalt stehen außer Frage. Dass es ein erstaunliches Eigenleben führt, weiß jeder Übergewichtige zudem aus Erfahrung. Und was wäre mit dem Mikrobiom? Es handelt sich dabei um Milliarden Bakterien, die Darm, aber auch Haut, Nase, Nebenhöhlen und Genitaltrakt bevölkern und bei jedem einzigartig sind. Ihre Zusammensetzung ist von der Genetik, frühkindlichen Einflüssen und der Ernährung abhängig. Erst langsam wird die Bedeutung für Krankheiten klar, Versuche mit Fäkaltransplantationen laufen bereits. Kranken mit therapieresistentem Durchfall wird Kot übertragen und so versucht, ihre Darmflora zu verändern, um das Leiden günstig zu beeinflussen.

In den Tiefen des Bauchraums finden sich weitere Anregungen für neue Organe. Milliarden Nervenbahnen, in dichten Netzen in der Bauchhöhle verwoben und mitverantwortlich für die Reaktion der Eingeweide auf psychische Unebenheiten - Ärger schlägt auf den Magen - sind erstaunlich autonom. Zudem ist hier morphologisch das Bauchgefühl verortet. Schon ist vom "Bauchgehirn" die Rede. Und das sagt, dass es sich beim Mesenterium, trotz enger Nachbarschaft, nicht um ein neues Organ handelt.

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