Lebenserwartung:Ist Gewicht gar nicht so wichtig?

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Dicker Bauch, langes Leben? Ob das stimmt, ist in der Wissenschaft umstritten. (Foto: imago)

Ist Übergewicht schädlich? Oder gar gesund? Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen widersprechen sich. Der Einfluss der Figur auf die Lebenserwartung wird wahrscheinlich überschätzt.

Von Werner Bartens

Vor zehn Jahren geriet das Weltbild von Laien wie Ärzten gehörig ins Wanken. Zuvor galt es als unumstößliche Wahrheit, dass es ungesund ist und die Lebenserwartung verkürzt, wenn man ein paar Pfunde mehr auf den Rippen hat. Übergewicht und erst recht die Steigerung davon - mit dem feisten Wort Fettleibigkeit bezeichnet - wurden als medizinischer Makel und Folge mangelnder Disziplin gebrandmarkt. Je mehr Kilos, desto riskanter für das Wohlergehen, so die Annahme.

Doch dann häuften sich seit 2005 große Studien, die zeigten, dass die Menschen gesünder sind und länger leben, wenn sie ein paar Polster und einen Body-Mass-Index (BMI) um die 27 oder höher vorzuweisen haben - 25 gilt als Grenze zum Übergewicht, ab 30 beginnt die Fettleibigkeit.

Zu ihren Befunden gelangten die Wissenschaftler mit einer verblüffend einfachen Frage: Mit welchem Gewicht wird man wie oft krank und erreicht welches Alter? "Übergewicht ist zwar ein Risikofaktor für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dennoch haben übergewichtige Menschen ein vermindertes Sterberisiko", stellte das Deutsche Ärzteblatt 2013 nach vielen zuvor publizierten Analysen lapidar fest. "Wie in etlichen früheren Untersuchungen kommen Forscher zu dem paradoxen Ergebnis, dass Übergewichtige eine niedrigere Sterblichkeit haben als Normalgewichtige."

Lebenserwartung
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Am längsten leben die Menschen mit einem BMI von 27. Nach Einschätzung der WHO bedeutet dieser Wert allerdings schon Übergewicht.

Von Werner Bartens

Seither gilt: Ein bisschen rund ist gesund - niemand sollte sich von Schlankheitsfanatikern die Lust am Essen verderben lassen. Schon 2009 hatte das Ärzteblatt getitelt: "Das überschätzte Übergewicht".

Die entlastenden Befunde passten jedoch weder der Lebensmittelindustrie, die nach Low-Fat, Low-Protein und Low-Carb mittlerweile jeden Einzelbestandteil im Essen zu reduzieren versucht - noch Ärzten, die den mahnenden Zeigefinger zu ihrem Markenzeichen gemacht haben. Immer wieder haben sie das Adipositas-Paradox (Englisch: "Obesity Paradox") widerlegen wollen. Es könne ja nicht sein, dass Übergewicht zwar irgendwie schädlich sein soll, die Menschen aber dennoch nach Krankheiten schneller wieder gesund werden und länger leben, wenn sie runder gebaut sind als sogenannte Normal- oder gar Idealgewichtige.

Also doch: Fettpolster erhöhen die Sterblichkeit. Aber nur bei kerngesunden Menschen

Der jüngste Versuch der Widerrede ist kürzlich im Fachmagazin Lancet (online) erschienen. Dutzende Forscher um Emanuele Di Angelantonio von der Universität Cambridge warten mit einer beeindruckenden Datenfülle auf. Sie haben 239 Studien in einer Metaanalyse ausgewertet und dazu Messwerte von mehr als zehn Millionen Menschen auf vier Kontinenten untersucht. Demnach erhöht Übergewicht die Sterblichkeit, was zu dem Aufruf der Forscher führt, weltweit den Kampf gegen überflüssige Pfunde zu intensivieren. "Im Mittel ist die Lebenserwartung bei übergewichtigen Menschen um ein Jahr verringert, fettleibige verlieren gar drei Jahre", sagt Angelantonio. "Übergewichtige Männer haben zudem ein weitaus größeres Risiko, früher zu sterben, als übergewichtige Frauen."

Sir Richard Peto, legendärer Epidemiologe aus Oxford und einer von 60 Ko-Autoren der Lancet-Studie, warnt im Guardian: "Nach dem Rauchen steht Übergewicht an zweiter Stelle der Ursachen für einen frühzeitigen Tod." Doch die Kontroverse um die Bedeutung des Körpergewichts für die Gesundheit ist mit der Studie aus England keineswegs beendet.

"Beobachtungsstudien, wie sie der Metaanalyse zugrunde liegen, sind anfällig für Verzerrungen durch Störvariablen", sagt die Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser aus Hamburg, die zudem Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin ist. "Sie lassen keine Schlüsse auf Ursache und Wirkung zu." So kann ein niedriger BMI Folge eines Krebsleidens sein. Ein früher Tod wäre dann nicht durch niedriges Körpergewicht, sondern durch den Krebs zu erklären. Raucher sind schlanker als Nichtraucher, haben aber ein höheres Krankheits- und Sterberisiko. Andererseits verlaufen Diabetes, Bluthochdruck und koronare Herzkrankheit bei Schlanken oft schwerwiegender als bei Übergewichtigen.

Diese Aspekte sind wichtig für das Verständnis der Lancet-Studie. Um möglichst alle Störvariablen auszuklammern und nur den Einfluss des BMI zu berechnen, gelangten in die Hauptanalyse nur augenscheinlich Gesunde. Die Mehrheit, nämlich 60 Prozent der ursprünglichen Teilnehmer und damit mehr als sechs Millionen Probanden, wurden ausgeschlossen. Nicht berücksichtigt wurden beispielsweise alle, die jemals geraucht haben oder an Krebs, Herz- oder Lungenerkrankungen litten. Für die verbleibenden 40 Prozent gesunder Studienteilnehmer wurde ein BMI im Normalbereich zwischen 22 und 24 als optimal für die Lebenserwartung identifiziert. Diese Auswahl entspricht jedoch nicht der Normalbevölkerung. Wer ist - gerade im Alter - schon frei von Leid?

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Bei Betrachtung aller ursprünglichen Studienteilnehmer kommt denn auch die Metaanalyse aus dem Lancet zu dem Schluss, dass Erwachsene mit Übergewicht die höchste Lebenserwartung haben. Dies bedeutet, dass für die Mehrheit der Menschen - im Fall der Studie die 60 Prozent zunächst ausgeschlossenen Teilnehmer - sogar ein noch höherer BMI das Gewicht mit der optimalen Lebenserwartung sein müsste.

Das Adipositas-Paradox scheint also keineswegs gelöst zu sein, was Ingrid Mühlhauser zu einer anderen Vermutung anregt: "Personen aus bildungsfernen und einkommensschwachen Schichten sind häufiger übergewichtig und haben gleichzeitig ein höheres Risiko, chronisch zu erkranken und früher zu sterben", sagt die Forscherin. "In dieser Metaanalyse wie auch in anderen Analysen wird der sozioökonomische Status als möglicher Störfaktor aber nicht berücksichtigt." Dabei haben Frauen mit niedrigem Einkommen eine um acht Jahre geringere Lebenserwartung als wohlhabende; bei Männern beträgt der Unterschied sogar elf Jahre.

Der Grund für den vorzeitigen Tod der sozial Benachteiligten ist nicht allein das Übergewicht. Lebensführung sowie negative berufliche und private Perspektiven stehen einem gesunden, langen Leben entgegen. "Insgesamt wird das Körpergewicht als Risikofaktor für die Lebenserwartung der Menschen vermutlich überbewertet", sagt Mühlhauser. "Vielen Menschen scheint Übergewicht nicht groß zu schaden, sondern eher zu nutzen. Sollten uns hingegen die massiven Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den sozialen Schichten wirklich bekümmern, wäre es lohnend, sich für Bildung, Einkommen und Lebensbedingungen mit ähnlichem Nachdruck zu engagieren wie bisher für das Körpergewicht."

© SZ vom 01.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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