Vorgeburtliche Therapie:Ärzte behandeln erstmals Gendefekt im Mutterleib

Vorgeburtliche Therapie: Die Familie T. aus Nienburg an der Weser.

Die Familie T. aus Nienburg an der Weser.

(Foto: Michael Rabenstein/Uniklinikum Erlangen)
  • Ein Gendefekt verhindert, dass der Körper Zahnanlagen, Haare, Schweiß- und Tränendrüsen bildet.
  • Bei Mäusen konnte der Arzt Holm Schneider das Leiden bereits behandeln.
  • Nun hat der Eingriff auch bei Zwillingen geklappt.

Von Christina Berndt

Geweint hat Joshua noch nie in seinem Leben. Der Fünfjährige lacht ausgelassen, als er die Tür seines Elternhauses in der Nähe von Nienburg an der Weser öffnet. Aber natürlich ist er nicht immer so fröhlich. Manchmal tobt Joshua, manchmal ist er auch tieftraurig. Trotzdem hat er noch nie geweint.

Dass der Junge einfach keine Tränen produzieren kann: Es war das erste Seltsame, das Joshuas Mutter Corinna T. an ihrem Sohn aufgefallen ist. Zunächst hat sich die Frau mit den roten Haaren und den auffallend dünnen Augenbrauen nicht viel dabei gedacht, aber dann kam noch die Sache mit dem Schwitzen dazu. Das kann Joshua nämlich auch nicht. Und als er mit zwei Jahren immer noch keinen Zahn hatte, fragte seine Mutter noch einmal beim Kinderarzt an. Der erzählte etwas von späten Entwicklern und dass man die Tränengänge vielleicht mal frei machen müsste, die seien sicher verstopft.

Doch Corinna T. glaubte das nicht, sie googelte Joshuas Besonderheiten, und da begegneten ihr auf einmal "ED-Kinder", die ganz ähnlich aussahen wie ihr Sohn: blonder Haarflaum, hohe Stirn, abstehende Ohren, dunkle Ringe um die Augen. Ein Gentest bestätigte: Joshua hat eine Ektodermale Dysplasie, kurz ED. Weil ein Gen fehlerhaft ist, bildet er das Protein EDA nicht - ein Signalmolekül, das während der frühen Entwicklung im Mutterleib dafür sorgt, dass Zahnanlagen gebildet werden, Haare, Schweiß- und Tränendrüsen. Joshua wird niemals weinen können.

Seit Jahrzehnten forscht Holm Schneider an dem Gendefekt, bei Mäusen hat er ihn schon geheilt

Plötzlich war Corinna T. so vieles klar: weshalb sie zwei sehr spitze Zähne hat und so dünne Augenbrauen und weshalb sie ihre Trikots beim Handball immer nur rechts durchschwitzt. Den Gendefekt hatte Joshua offenbar von ihr geerbt. Früher hatte sie sich immer über ihr halbseitiges Schwitzen lustig gemacht. Jetzt heulte Corinna T. die Nacht durch. Und als sie knapp drei Jahre später wieder schwanger war, diesmal mit Zwillingsjungs, da war sie so verzweifelt, dass sie zusammen mit ihrem Mann Tobias nach Erlangen fuhr und Holm Schneider anflehte.

Schneider ist Experte für Molekulare Pädiatrie am Universitätsklinikum Erlangen. Der Professor kennt sich bestens mit ED aus, seit Jahrzehnten forscht er an dem Gendefekt, bei Mäusen hat er ihn schon geheilt. Den Tieren konnte er helfen, ohne dass er ihre Gene reparieren musste: Er musste trächtigen Weibchen nur EDA in die Fruchtblase spritzen, schon bildete ihr Nachwuchs Schweißdrüsen, Haar- und Zahnanlagen aus.

Genau so eine Behandlung wünschte sich T. auch für ihre Zwillinge. Joshua geht es gut, aber für kleine Kinder bedeutet die Krankheit eine ständige Gefahr. Wenn man nicht aufpasst, können sie an Überhitzung sterben. Und wie sollte das gehen, ständig aufpassen auf drei kleine Jungs?

Beide Zwillinge tragen den Gendefekt

Dass die Zwillinge beide den Gendefekt trugen, hatte der Pränatalmediziner Florian Faschingbauer in Erlangen an ihren wenigen Zahnanlagen im Ultraschall erkannt. Ein seltsamer Zufall: Der Gendefekt der Familie T. liegt auf dem X-Chromosom, von dem Jungen nur eines und Mädchen zwei haben. Mädchen sind deshalb in der Regel weniger schwer betroffen, dafür haben Jungen eigentlich eine 50-prozentige Chance, dass sie den Defekt nicht von ihrer Mutter erben.

Schneider und Faschingbauer verstanden die Not der Mutter, trotzdem zögerten sie: Würden sie Corinna T. behandeln, dann wäre das ein Heilversuch - ein Experiment an einer Schwangeren. Schneider hatte EDA im Rahmen einer Studie schon einmal an Neugeborenen getestet, denen es allerdings nicht half. Die Therapie kam für sie zu spät. Aber Ungeborene zu behandeln? "Ohne den Mut der Familie wären wir diesen Schritt wohl nicht gegangen", sagt Schneider.

Vorgeburtliche Therapie: Der Mediziner Holm Schneider ist Spezialist für die erbliche bedingte Ektodermale Dysplasie.

Der Mediziner Holm Schneider ist Spezialist für die erbliche bedingte Ektodermale Dysplasie.

(Foto: Michael Rabenstein / Uniklinikum Erlangen)

Der Mut zahlte sich aus: An diesem Donnerstag berichten die Erlanger Ärzte im New England Journal of Medicine von ihrem gelungenen Experiment. Anders als ihr Bruder können die Zwillinge Linus und Maarten schwitzen, um sie muss man sich keine Sorgen machen. "Wir sind sehr froh darüber", sagt Schneider. "Wir konnten der Familie nichts versprechen. Aber sie hatten ein betroffenes Kind, sie wussten, weshalb sie uns gebeten haben."

Joshua hat die kritischen ersten Lebensjahre schon hinter sich, in denen ständig der Tod durch Überhitzung lauert. Weil jemand sie zu warm einpackt. Weil die Sonne ins Auto knallt. Weil sie auf dem Dachboden spielen. "Es gab auch bei Joshua Situationen, die ins Auge hätten gehen können", sagt Corinna T. "Ich weiß noch, wie er als Baby einmal furchtbar quengelte, er hatte sehr rote Ohren." Aber es wusste ja niemand von Joshuas Veranlagung. "Ich habe ihn dann intuitiv ins Planschbecken gesteckt, das war genau das Richtige."

Geheilt sind die Zwillinge nicht

Die Zwillinge sind jetzt fast zwei Jahre alt. Wie Joshua laufen Maarten und Linus ständig barfuß durchs Haus, das kühlt, während ihre Mutter von ihrem Wagnis erzählt. Und davon, wie die Erlanger Ärzte bald nach der Geburt der Zwillinge zu den T.s nach Hause kamen. Mit im Gepäck: ein hochauflösendes Mikroskop. Alle zitterten, als die Wissenschaftler die Fußsohlen der Zwillinge betrachteten, dann waren sie erleichtert: Deutlich waren die Schweißdrüsen zu sehen, fast genau so viele wie bei Kindern ohne den Gendefekt. "Wir haben es wahrgenommen, aber erst nicht geglaubt", erzählt T. Aber als es im vergangenen Sommer so heiß war, dass Maarten den Bezug der Babyschale im Auto durchschwitzte, war die Mutter selig.

Die Zwillinge sind nicht geheilt. Wenn sie einmal selbst Töchter bekommen, können sie ihren Gendefekt weitergeben. Auch sind nicht alle Symptome der Krankheit bekämpft, denn die Forscher behandelten Corinna T. bewusst erst in der 26. Schwangerschaftswoche, zu dieser Zeit können die Schweißdrüsen noch angelegt werden, die Bildung von Haaranlagen ist aber abgeschlossen und die der Zähne schon weit fortgeschritten.

"Wenn es durch die Spritze zur Frühgeburt gekommen wäre, wären die Kinder wenigstens so weit entwickelt gewesen, dass man sie hätte retten können", sagt Faschingbauer. Dafür werden die Haare der Zwillinge wohl immer so dünn bleiben wie jetzt, wo die Sonnenstrahlen in der elterlichen Wohnküche den Flaum auf ihren Köpfen leuchten lassen. Auch werden sie spitze Zähne bekommen, aber mehr als ihr Bruder. "Im Ultraschall sind bei den Zwillingen Anlagen für zehn Zähne zu sehen", sagt Holm Schneider. Joshua hat dagegen gerade mal drei Zähne, vor Kurzem hat er seine erste Prothese bekommen.

"Im Gegensatz zur Anlage der Schweißdrüsen sind die Zähne und Haare ja vor allem ein kosmetisches Problem, dafür wollten wir kein Risiko eingehen", sagt Schneider. Nicht schwitzen zu können, bedeutet hingegen einen erheblichen Einschnitt an Lebensqualität und Leistungsfähigkeit.

Mit Joshua geht Familie T. nirgends hin ohne Wasser und Sprühflaschen. Im Urlaub fahren sie nie in den Süden. Eis essen mit Anderen in der Sonne ist schwierig. Und beim Sport muss Joshua regelmäßig Pause machen und sich zum Abkühlen auf den Boden legen. Seine Brüder werden sich all diese Gedanken nicht machen müssen.

In Deutschland werden allenfalls 20 betroffene Kinder geboren, für Pharmafirmen ist das Feld uninteressant

"Wir sind sehr berührt, dass wir den Kindern das Leben so erleichtern konnten", sagt Matthias Beckmann, der Direktor der Erlanger Frauenklinik. Zahlreiche Pioniertaten gab es an seiner Klinik schon - auch zu ihrer Zeit umstrittene. Das erste deutsche Retortenbaby wurde hier geboren und das erste deutsche Kind aus eingefrorenen Eizellen. Nun haben Erlanger Ärzte - wohl weltweit zum ersten Mal - einen Gendefekt im Mutterleib mit Hilfe eines künstlich hergestellten Proteins erfolgreich behandelt.

Gerne würden Schneider und Faschingbauer weiteren Kindern helfen. Auch Kollegen plädieren fürs Weitermachen: Die Ergebnisse aus Erlangen seien "bemerkenswert" kommentiert Marja Mikkola von der Universität Helsinki im New England Journal of Medicine, zumal es keine erkennbaren Nebenwirkungen gebe. Der Weg sei nun geebnet für eine größere Studie.

Doch es gibt ein Problem: Pro Jahr werden in Deutschland allenfalls 20 betroffene Kinder geboren, für Pharmafirmen ist das Feld uninteressant. Und das Medikament, das eine Firma einst für das Erlanger Klinikum zur Anwendung am Menschen hergestellt hatte, ist aufgebraucht.

Maarten und Linus ist das noch egal, sie lachen ihr zahnloses Lachen. Bald werden ihre ersten spitzen Zähnchen durchbrechen. Corinna T. mag diese seltsamen Zähne und den Haarflaum, sie liebt ihre ED-Kinder. "Wir haben die Zwillinge ja nicht verändert, weil sie sonst nicht liebenswert gewesen wären", sagt sie. "Wir hätten sie auch so genommen, wie sie sind. Aber wir wollten etwas tun, damit sie ein besseres, ein einfacheres Leben haben."

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