Medizin:Die Macht der guten Geschichte

Sprossen

Dass einzelne Lebensmittel wie Sprossen vor Krebs schützen, ist nicht bewiesen.

(Foto: dpa)

In einer großen Zeitung darf eine selbst ernannte "Heilköchin" unbewiesene Verbindungen zwischen veganer Ernährung und Krebsschutz ziehen. Das kann man tadeln, aber davon kann man auch lernen!

Kommentar von Werner Bartens

Der mitreißende Geschichtenerzähler ist auf jeder Party und in jeder Runde gern gesehen. Die anderen hören ihm begeistert zu, weil er unterhalten kann, aufrütteln, berühren und im besten Fall anregenden Gesprächsstoff über den Tag hinaus liefert. Die Medizin bietet unendlich viele bewegende Geschichten - heitere, traurige, tragische, absurde. Doch wahrgenommen wird sie zumeist wie jene graue Maus, die auf Festen keiner anspricht, die neben der feiernden Meute verkümmert, aber die Abfahrtszeiten der nächsten Busse und U-Bahnen auswendig aufsagen kann.

Es reicht nicht, es besser zu wissen, man muss es auch besser sagen und schreiben können

Die große Erzählung, das überzeugende Narrativ ist bisher viel zu selten Sache der Medizin, gilt gar als verpönt. Wenn sich Mediziner öffentlich oder unter Fachkollegen äußern, dominieren Studiendaten, Meta-Analysen, Schaden-Nutzen-Bilanzen, die zumeist in dürren Worten vorgetragen werden. Es ist nur begrenzt attraktiv, statistische Auswertungen auf Pidgin-Englisch von Powerpoint-Folien abgelesen zu bekommen.

Mit ganz anderer Wucht kommen gute Geschichten und Erfahrungsberichte daher. Gerade hat eine Mutter im Tagesspiegel davon berichtet, wie sie nach der Krebserkrankung ihrer Tochter die Ernährung umgestellt hat und die Familie nur noch vegan bekocht. Ein Vorteil dieser Ernährung zur Krebsprävention oder während der Therapie konnte trotz vielfacher Versuche nie belegt werden. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich der Text ohne viel Anlauf in der Luft zerreißen.

Aber darum geht es nicht, jedenfalls nicht nur. Der Artikel nutzt die Kraft des Wortes, um fragwürdige Weisheiten einer selbsternannten "Heilköchin" zu verbreiten. Das kann man tadeln, aber davon kann man auch lernen! Warum vernachlässigen die meisten Ärzte, Wissenschaftler und Institutionen im Gesundheitswesen die Möglichkeiten der mitreißenden Darstellung sträflich? Es reicht nicht, es besser zu wissen, man muss es auch besser sagen und schreiben - auf Fachkongressen, öffentlichen Veranstaltungen, auf dem Marktplatz, gegenüber Patienten. Egal, ob es um gesunde Lebensführung, neue Krebstherapien, die begrenzten Chancen der Früherkennung oder andere umstrittene Themen geht.

In den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht fesselt Scheherazade den König immer wieder mit spannenden Geschichten, um dem Tod zu entgehen. Die Odyssee, die Bibel, die Edda und viele andere große Erzählungen kleiden die Erkenntnisse um Leben, Leiden und Sterben in machtvolle Parabeln. In der Medizin geht es tatsächlich um Leben, Sterben und Überleben. Angesichts der Wucht ihrer Themen kommt sie jedoch erschreckend schmallippig und wortkarg daher.

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