Medikamententests an Demenzkranken:Die Grenzen der Selbstbestimmung

Demenzkranke werden zum Forschungsobjekt gemacht. Das ist nicht nur unverantwortlich, sondern auch unnötig. Sogar die Pharmaindustrie sieht das so.

Kommentar von Jan Heidtmann

An Demenz Erkrankte als Probanden für andere - dem hat der Bundestag nun zugestimmt. Das klingt brutal, und das ist es auch. Jeder, der einmal einen Demenzkranken über längere Zeit erlebt hat, weiß, wie zerbrechlich solch ein Mensch geworden ist. Oft steckt er voller Ängste; sie lauern hinter jeder Ecke, die er nicht mehr kennt, hinter jedem Gesicht, das wieder einmal neu für ihn ist. Ein solcher Mensch wirkt bedürftig nach Schutz, so, wie es nicht einmal ein Neugeborenes tut.

Anlass für die Abstimmung war eine neue Verordnung der EU, an die Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) das deutsche Arzneimittelgesetz anpassen will. Notwendig wäre das nicht, Deutschland könnte auch bei seiner strikten Regelung bleiben: Die lässt nur dann Medikamententests an Demenzkranken zu, wenn die Probanden selbst davon einen Nutzen haben und der Betreuer zustimmt. Wie prekär die Gesetzesvorlage ist, über die sie entscheiden, das war den meisten Parlamentariern klar. Der Streit um die Medikamententests geht quer durch die Parteien, die Abstimmung musste zweimal verschoben werden; zuletzt im Sommer, weil Hunderte Abgeordnete Änderungen anmeldeten.

All das sind Signale dafür, dass es hier um eine der großen Fragen geht, auf die es meist keine eindeutige Antwort gibt. Der Bundestag hat dieses Dilemma ernst genommen. Dadurch, dass am Mittwoch noch einmal intensiv darüber debattiert wurde, und auch dadurch, dass bei einer ersten Abstimmung der Fraktionszwang aufgehoben wurde. Trotzdem ist das Ergebnis unverantwortlich.

Demenzkranke werden zum Forschungsobjekt gemacht

Gröhe will den vorhandenen Schutz aufweichen, um der Forschung mehr Spielraum zu verschaffen. Dabei geht es vor allem um Medikamente für schwer an Demenz erkrankte Menschen. Das wäre ein Argument, einige Wissenschaftler sehen das auch so. Das Gros der Mediziner aber, darunter die Bundesärztekammer, kann offenbar keinen besonderen Nutzen in diesen Untersuchungen erkennen. Noch schwerer wiegt die Haltung der Pharmaindustrie, die diese Forschung an Demenzkranken nicht für notwendig hält. Sähe sie eine Möglichkeit, so neue Medikamente zu entwickeln, wäre sie aber die erste, die sich für eine Gesetzesänderung ausgesprochen hätte. Gröhe, so scheint es, stützt sein Vorhaben vor allem auf die Meinung einiger Wissenschaftler, denen er vertraut.

Abseits vom Sinn der Tests stellt sich die Frage, wie weit der Wille eines Menschen reicht. Gröhe argumentiert mit der Selbstbestimmung: Aufgeklärt von einem Arzt und bei vollem Bewusstsein könne jeder selbst über eine Teilnahme an den Tests entscheiden. Dieses Prinzip mag vielleicht bei Organspenden funktionieren. Dort ist, um es zynisch zu sagen, der Deal klar: Bin ich tot, dürfen mir Organe entnommen werden. Doch wenn ein heute gesunder Mensch in 25 Jahren an Demenz erkrankt, wie sieht dann die Forschung aus? Was für Medikamente werden dann getestet? In diesem Ungefähren sollte auch die Selbstbestimmung ihre Grenze haben.

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