Medikamente:Viele möchten kürzer leben statt Pillen schlucken

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Täglich Pillen und Kapseln einnehmen zu müssen, reduziert die Lebensqualität. Viele Menschen würden bei dieser Aussicht sogar ein paar Jahre Lebenszeit opfern. Spielt die Angst vor Nebenwirkungen eine Rolle?

Von Werner Bartens

Schön ist die Vorstellung nicht, jeden Tag eine Tablette schlucken und dieses Ritual bis zum Lebensende beibehalten zu müssen. Was für chronisch Kranke und viele Senioren alltägliche Pflicht ist, bedeutet für andere Menschen eine empfindliche Einschränkung ihrer Lebensqualität. Das geht so weit, dass sie - zumindest hypothetisch - auf einen Teil ihrer Lebenszeit verzichten oder viel Geld bezahlen würden, wenn sie um die Pilleneinnahme herumkämen. Zu diesem Ergebnis kommen Ärzte um Robert Hutchins im Fachblatt Circulation (online) vom Mittwoch.

Das Forscherteam von der University of California in San Francisco hatte 1000 Menschen mit einem Durchschnittsalter von 50 Jahren gefragt, wie viel Lebenszeit sie opfern oder wie viel Geld sie aufbringen würden, wenn sie damit verhindern könnten, täglich zur Tablettenschachtel greifen zu müssen. Immerhin acht Prozent der Teilnehmer waren bereit, auf zwei Jahre zu verzichten. 21 Prozent gaben an, zwischen einer Woche und einem Jahr ihres Lebens hergeben zu wollen. Ebenfalls 21 Prozent der Probanden würden durchschnittlich 1445 Dollar zahlen, wenn sie dafür keine Medikamente gegen Herzkreislaufleiden schlucken müssten.

"Wir wollten wissen, wie sehr die regelmäßige Tabletteneinnahme die Lebensqualität beeinträchtigt - dazu gehört ja, die Medikamente zu bekommen, daran zu denken und sie tatsächlich zu schlucken", sagt Hutchins. "Auch wenn man Nebenwirkungen beiseite lässt, kann allein der Umstand, sie jeden Tag schlucken zu müssen, die Lebensqualität erheblich stören." Viele Erwachsene nehmen regelmäßig Tabletten, ältere Menschen oft mehr als eine Handvoll am Tag. In diesen Fällen vergrößert sich die Abneigung vermutlich noch, so die Autoren.

Patienten tun oft nicht das, was Ärzte von ihnen erwarten

Auch wenn in der Studie nach hypothetischen Vorlieben gefragt wurde, ist es wichtig, mehr über die äußerst mäßige Motivation zur Medikamenteneinnahme zu erfahren. Diverse Untersuchungen haben gezeigt, dass bis zu zwei Drittel der Patienten die Arzneimittel, die ihnen verordnet werden, nicht regelmäßig einnehmen. Die Medikamente werden entweder nur gelegentlich geschluckt, landen im Müll oder finden im Badezimmer ihr Endlager.

Wolfgang Himmel vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Göttingen hat im Jahr 2013 festgestellt, dass zwar durchaus mehr Patienten der Therapie treu bleiben, als in einschlägigen Studien unterstellt wird - allerdings nach ihrem eigenen Rhythmus und nicht gemäß den Verschreibungsplänen der Ärzte. "Patienten tun oft nicht das, was Ärzte von ihnen erwarten und was sie ursprünglich selbst vorhatten. Sie legen immer wieder Medikamentenpausen ein", sagt Himmel. Patienten nehmen aus vielfältigen Gründen ihre Medikamente nicht oder nicht gründlich ein. Das diffuse Unbehagen gegenüber Arzneimitteln ist groß, die Sorge vor Nebenwirkungen oder fehlender Wirksamkeit ebenfalls. Zudem geht mit der regelmäßigen Tabletteneinnahme ja auch das Eingeständnis einher, dass man auf Hilfe angewiesen und nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte und Fähigkeiten ist.

Gerade für bisher Gesunde ist dies eine schmerzliche Erkenntnis, was erklären könnte, warum in der aktuellen Umfrage sogar ein kürzeres Leben in Kauf genommen wurde, um sich für den Moment - und möglichst bis zum Schluss - vital und unversehrt zu fühlen.

© SZ vom 04.02.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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