Masern:Eine Seuche geht um in Deutschland

Als Baby hatte das Mädchen die Masern gut überstanden. Fünf Jahre später verursachten die Viren eine Entzündung des Gehirns und machten das Kind binnen weniger Wochen zum Pflegefall. Die Masern sind weder harmlos noch ausgerottet. Im Gegenteil: Bedingt durch die Impfskepsis nehmen die Infektionen wieder zu.

Christina Berndt

Eine Seuche geht um in Deutschland. Sie heißt nicht Ehec und nicht Sars, es sind die altbekannten Masern, die in Europa längst ausgerottet sein sollten. Doch in diesem Jahr sind bereits mehr als 1600 Menschen daran erkrankt, meldet das Robert-Koch-Institut. Das sind schon doppelt so viele wie im ganzen Jahr 2010. Die meisten Fälle gibt es in Bayern und Baden-Württemberg, auch Berlin ist überproportional betroffen.

Ach, nur die Masern, werden nun viele sagen. Sie unterschätzen den Virusinfekt, den sie oft selbst als Kind hatten. "Das sind doch nur Kinderkrankheiten", heißt es lapidar, wenn es um kleine Zipperlein geht, die sich leicht beheben lassen. Dabei heißen Kinderkrankheiten keineswegs so, weil sie nicht ernst zu nehmen sind. Sie sind vielmehr so ansteckend, dass ihnen früher kaum jemand bis ins Erwachsenenalter entkam.

Die Masern können besonders unangenehm werden. Lungen- und Mittelohrentzündung sind häufig, mitunter kommt es auch zur Meningoenzephalitis, die bleibende Schäden des Gehirns zur Folge haben kann. "Wir haben die Masern doch auch überstanden, können eben nur diejenigen sagen, die sie gesund überstanden haben", sagt der Mediziner Reinhard Berner von der Uni Freiburg. Er erzählt von Zwillingsschwestern: "Die eine geht heute zum Gymnasium, aber die andere muss in einem Heim betreut werden."

Noch Jahre nach der Infektion kann eine gefürchtete Komplikation auftreten: Dann kommt es zur Entzündung des ganzen Gehirns. Gegen diese Subakute Sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) gibt es keine Therapie. Sie verläuft binnen weniger Jahre tödlich. In Aschaffenburg liegt derzeit eine Sechsjährige im Sterben. Als Baby hat sie sich bei einem Erwachsenen mit Masern angesteckt, die sie gut überstanden hat. Doch im Februar meldeten sich die Viren zurück. "Angelina fiel häufiger vom Fahrrad und hatte sprachliche Blockaden", berichtet ihre Mutter. Binnen acht Wochen wurde die Kleine zum Pflegefall, teilte jetzt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) mit. "Sie kann weder laufen noch sprechen und muss künstlich ernährt werden", so die Mutter.

Die SSPE trete häufiger auf als bislang angenommen, sagt Martin Terhardt vom BVKJ - vor allem nach einer Infektion im ersten Lebensjahr. "Die Masernviren siedeln sich unbemerkt im Gehirn an, vermehren sich erst Jahre später und zerstören dabei die Nervenzellen." Doch eine Impfung ist frühestens mit neun Monaten möglich. Bis dahin sind Säuglinge auf den Herdenschutz angewiesen - darauf also, dass die Menschen in ihrer Umgebung geimpft sind. Gerade bei 15- bis 40-Jährigen ist dies aber oft nicht der Fall. Diese Menschen sollten sich impfen lassen, sagt Martin Terhardt, auch um Kinder zu schützen. Erst Ende Oktober ist ein 13-jähriges Mädchen in Bad Salzuflen der SSPE erlegen. Es hatte sich ebenfalls bereits als Baby infiziert.

Der Ärzteverband spricht sich dafür aus, Impfungen zur Bedingung für den Besuch einer Kindertagesstätte zu machen - vor allem dann, wenn dort auch unter Einjährige betreut werden. "In Deutschland wird politisch zu wenig getan", meint auch Reinhard Berner. Impfungen seien ein Kinderrecht. Und was sagt er Impfskeptikern, die glauben, das Immunsystem reife an Kinderkrankheiten? "Auch am Krebs lernt das Immunsystem, trotzdem will ihn niemand haben", so Berner. "Täglich kommen wir mit unzähligen Keimen in Kontakt. Um unsere Abwehr zu stärken, brauchen wir die Masern wirklich nicht."

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