Lernhilfen für Kleinkinder:Babys beim Bungee-Springen

Die Krabbeldecke war einmal: Heute werden absurde Geräte für Kinder angeboten, die bestenfalls sinnlos, häufig aber gefährlich sind.

Silke Schellhammer

Vorne im Cockpit piepen und blinken die Lämpchen. Blitzartig schießt das Vehikel vorwärts. Die Beschleunigung reißt seinem Insassen den Kopf in den Nacken. Ein dumpfer Schlag, und das Fahrzeug namens "Walker Elektra" stoppt abrupt. Der Kopf des Piloten schnellt unkontrolliert nach vorne. Bevor er genauere Erkenntnisse sammeln kann, katapultiert ihn die Höllenmaschine wieder durch den Raum. Was wie das Abenteuer eines unerschrockenen Rennfahrers klingt, findet jeden Tag in Tausenden deutschen Wohnungen statt.

Der Walker Elektra ist eine sogenannte Lauflernhilfe - auch "Gehfrei" genannt, der Pilot ist ein wenige Monate altes Baby. Das Gerät muss man sich vorstellen wie einen tiefergelegten Kinderstuhl auf Rädern. Das Kind steckt in einer Art Sitzhose, die in einer waagrechten runden Platte hängt. Dem "thematischen Style" entsprechend, gibt es ein cooles Cockpit im Dschungel-Design oder irgend einen anderen in Plastik gegossenen Leitgedanken. Die Sitzhöhe wird so eingestellt, dass die Füße des Babys den Boden nur leicht berühren.

Beginnt das Baby zu strampeln, setzt sich die Lauflernhilfe in Gang. Gesteuert wird über den Winkel und die Kraft, mit der die Füße auf den Boden aufgesetzt werden. Eine knifflige Aufgabe für ein halbjähriges Kind. Wie die Kombination aus Strampeln und Rollen dem Laufenlernen förderlich sein soll, wird von den Herstellern nicht näher erläutert.

In der Produktbeschreibung wird der Spaß- und Unterhaltungsfaktor des Gerätes betont - fast schon eine Ironie, gemessen an den motorischen Fähigkeiten der Zielgruppe. Denn während die Lauflernhilfe unkontrolliert durch die Gegend schießt, ist das Kind vor allem damit beschäftigt, den Kopf nicht zu verlieren.

Zur Verdeutlichung: Überträgt man die Proportionen eines Säuglings auf einen erwachsenen Körper, so hätte der Kopf die Größe und das Gewicht eines Medizinballes. Kinder sind nicht Erwachsene in Miniaturausgabe. Weder die Knochen, die überwiegend aus Knorpel bestehen, noch die Geometrie der Gelenke eignen sich zum Stehen. Es dauert etwa ein Jahr, bis die Entwicklung der Beine so weit ist, dass sich das Kind an Möbeln hochziehen und stehen kann. Für ein halbjähriges Baby ist die Idee des freien Gehens etwa so sinnvoll wie ein USB-Stick für den Steinzeitmenschen.

"Kinder sind von Natur aus optimale Lernmaschinen, da muss man gar nichts machen. Aber wir verderben sie; wir machen die Kinder kaputt", mahnt der Hirnforscher Manfred Spitzer. Im Gegensatz zu den meisten anderen Säugetieren kommt ein menschliches Baby mit einem eingeschränkten motorischen Repertoire auf die Welt. Bewegungen werden überwiegend durch Reflexe gesteuert, und die Muskulatur entspricht lediglich einem ausbaufähigen Prototypen.

Zudem erfährt es nach der Geburt, außerhalb der Fruchtblase im Mutterleib, erstmals die ganze Kraft der Erdanziehung. Liegt ein Kind auf dem Rücken und hebt Arme und Beine von der Unterlage ab, so ist dies ein anstrengender Balanceakt. Die Rückenmuskulatur muss erst lernen, die Gewichtsverschiebungen der Extremitäten auszugleichen. Wer sich in die motorische Welt eines Babys versetzen will, sollte sich mit Fünf-Kilo-Hanteln in jeder Hand auf den Rücken legen, Arme und Beine von der Unterlage abheben und seine Extremitäten bewegen.

Säuglinge in Gummiseilen

Mit jeder Bewegung sammelt der Säugling Erfahrungen - ein langwieriger Prozess, der weit über das erste Lebensjahr hinausreicht. Untersuchungen haben ergeben, dass die sensorischen Rückmeldungen bei der Berührung beider Hände des Babys, im Gehirn ein wahres Feuerwerk auslöst. Beide Gehirnhälften entdecken, dass sie nicht alleine sind. Die brausende Reizflut von Sinneseindrücken fordert so sehr die Aufmerksamkeit des Kindes, dass es keine zusätzlichen Stimulationen braucht. Babys sollten zwar nicht sich selbst überlassen werden, doch brauchen sie deutlich weniger Unterhaltung, als man gemeinhin glaubt.

Erst wenn der Säugling beginnt, sich im Liegen umzudrehen, entwickelt sich zum Beispiel das dreidimensionale Sehen. Neurologen vermuten, dass motorische Fertigkeit als Initialzündung für die Neugestaltung der sensorischen Fähigkeiten gesehen werden kann. Babys wollen ihre Welt alleine entdecken und nicht durchkatapultiert werden.

Mit Reizquellen überfrachtete Spielsachen, wie zum Beispiel eine Lauflernhilfe, nehmen den Kindern diese Fähigkeit. Wo man getrost von einer sensorischen Überflutung reden kann, werben die Hersteller ungeniert, dass "das elektrische Spielbrett im Look eines Rennautos mit vielen verschiedenen Sounds und Funktionen, wie beispielsweise Lenkrad und Hupe (...) für viel Spaß bei den Kleinsten" sorge.

Bereits im Jahr 2002 konnte Mary Garrett, Direktorin der Abteilung Physiotherapie an der University of Dublin, in einer Querschnittsstudie über den Einfluss von Lauflernhilfen auf die Entwicklung der Fortbewegung nachweisen, dass sich Lauflernhilfen nachteilig auf die kindliche Entwicklung auswirken. "Lauflernhilfen verzögern signifikant das Erreichen von Entwicklungspunkten (wie Krabbeln, Stehen und Laufen) in der Bewegungsfähigkeit bei Kindern", heißt es in der Studie.

Gravierender noch als die gehemmte körperliche Entwicklung ist das Sicherheitsrisiko. Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) mehr Sicherheit für Kinder e.V. weist darauf hin, dass "das Gefährdungspotential jenseits der technischen Funktionalität liegt". Unter technischer Funktionalität versteht man die Sicherheit des Gerätes an sich (Verletzungsgefahr an scharfen Kanten, Belastbarkeit der Räder etc.). Vielmehr können Kleinkinder in den Geräten "kurzfristig Geschwindigkeiten von bis zu zehn bis 20 Stundenkilometern erreichen".

Die Resultate sind Kopfverletzungen, Schädelbrüche, Schleudertraumen oder auch Querschnittslähmungen. Bis zu 100schwere Unfälle im Zusammenhang mit Lauflernhilfen benennt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte jedes Jahr. Der Aktionsradius der Kinder erweitert sich zudem enorm. Gefahren wie Treppen, Türschwellen, Tischecken und Schränke werden von den Eltern nicht erkannt. Insgesamt vermutet die BAG allein in Deutschland bis zu 6000Zwischenfälle pro Jahr. Die Kinderärzte zählen Lauflernhilfen zu den "gefährlichsten Verwahrungsgeräten". Anlässlich des Kinder- und Jugendärztetages 2007 in Dresden forderte der BAG-Präsident Wolfram Hartmann explizit "ein Verbot von höchst unfallträchtigen Lauflernhilfen für Kleinstkinder".

Kanada und einige Länder Skandinaviens haben diese Gefahren nicht nur erkannt, sie haben sie auch gebannt. Seit 2004 sind Lauflernhilfen dort verboten. Doch nicht nur Lauflernhilfen gehören zu den sinnlosen wie gefährlichen Gerätschaften. Auch "Babyhopser" gehören dazu. Das Kind befindet sich bei diesen in einer Sitzhose, die an einem Gummiseil im Türrahmen hängt. Bungee-Springen für Säuglinge? Wer das für absurd hält, sollte einen Blick auf den "Jumperoo Baby Hopser Rainforest" werfen, der für Kinder ab null (!) Monaten empfohlen wird und 360 Grad Hüpfspaß mit Licht-, Geräusch- und Musikeffekten verspricht.

Vorbei sind offenbar die Zeiten der harmlosen Krabbeldecke. Kinder liegen heute auch im "Spider Bouncer". Das ist eine Babywippe mit Vibrations- und Soundfunktion, integrierten Lautsprechern und einem Anschluss für den MP3-Player. Egal, ob die Geräte ein Dolby Surround System, eine stufenlos regulierbare Schüttelfunktion und eine "High Power Ecomodus"-Lichtmaschine haben, sie versetzen Babys in eine Umwelt, die nichts mit ihren Bedürfnissen zu tun hat und frei ist von jeder kreativen Eigeninitiative.

Womöglich erinnert der profane Laufstall in der aufgeklärten Welt zu sehr an Käfighaltung. Doch wenigstens können sich Babys darin angemessen bewegen. Definitiv nicht möglich ist das, wenn das Kind in eine wippende, hüpfende oder rollende Diskothek geschnallt ist - weil manche Eltern glauben, oder glauben möchten, dass so etwas förderlich sein könnte.

Mehr über den Umgang mit Baby erfahren Sie in unserem Ratgeber.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: