Kinderherzchirurgie:Herr über Leben und Tod

René Prêtre

Der Chirurg René Prêtre hat in 30 Jahren fast 9000 Herzen operiert. Manchmal ist das Organ nicht viel größer als eine Pflaume.

(Foto: Sophie Stieger / 13 Photo)

Der Kinderherzchirurg René Prêtre rettet Leben - aber manchmal zerstört er sie auch. Über einen, der mit großer Schuld leben muss.

Von Ann-Kathrin Eckardt

Ein Zucken noch, ein letzter Ton. Dann rührt sich nichts mehr in dem aufgestemmten Brustkorb. Wenn René Prêtre ein Leben anhält, entspannt sich sein Körper für einen Moment. Sein schildkrötenartig nach vorne gestreckter Kopf fährt dann zurück über die Brust, seine Schultern sinken nach unten, seine gebeugten Beine strecken sich. Der Schweizer dehnt den Kopf einmal nach rechts, einmal nach links. Dann schneidet er das Herz auf.

Braunorange schimmernd liegt es im Neonlicht des OP-Strahlers vor ihm, dreifach vergrößert unter der Lupenbrille. Eine Herz-Lungen-Maschine hat vorübergehend die Arbeit der beiden Organe übernommen. Gleichmäßig lässt sie bläuliches Blut durch Schläuche und Pumpen fließen, bevor sie es mit Sauerstoff angereichert karminrot zurück in den Körper schickt. Eine Tafel an der Wand verrät: Unter dem grünen OP-Laken liegt ein Mädchen, 1,59 Meter groß, 54 Kilogramm schwer, 14 Jahre alt.

Beim Vorgespräch hat das Mädchen Prêtre gebeten, die Narbe auf seiner Brust, Überbleibsel einer früheren Herz-OP, zu erhalten. Prêtre hat es versprochen. Und er hat ihr erklärt, was er machen wird: Er wird bei ruhendem Herzen ein Loch in der Scheidewand nähen und eine Herzklappe in der linken Hälfte flicken. Er wird bei schlagendem Herzen in der rechten Hälfte eine neue Klappe einsetzen. Drei bis vier Stunden wird er dafür brauchen. Schwierigkeitsgrad: 2,5 von 5, schätzt er. Dass er ihr Leben retten wird, hat er der 14-Jährigen nicht versprochen. Dafür hat Prêtre, ein ruhiger Mann von 60 Jahren, schon zu viele Herzen operiert. Fast 9000 waren es in drei Jahrzehnten - Herzen von Radprofis, groß wie Melonen, Herzen von Teenagern, groß wie Äpfel, Herzen von Frühchen, groß wie Pflaumen. Seit gut 20 Jahren operiert Prêtre vor allem Kinderherzen. In diesem Fach arbeiten die Seiltänzer unter den Artisten. Bis zu vierzehn Stunden steht Prêtre im Operationssaal, ohne Essen, ohne Pause, ohne zu merken, wie die Sonne auf und wieder untergeht. Er trinkt dann mit Strohhalm unter seinem Mundschutz durch aus einer Flasche, die eine Schwester für ihn hält. Nur keinen Schluck zu viel, damit er nicht aufs Klo muss.

In der Uniklinik von Lausanne leitet Prêtre eine von drei Abteilungen für Kinderherzchirurgie in der Schweiz, die auch die schwierigsten OPs beherrschen. Acht Operationen stehen jede Woche auf dem Plan, eine morgens, eine nachmittags. Zwei Slots lässt er frei - für Notfälle. Sie haben ihn schon von Skipisten und aus Ferienhäusern in Zermatt geholt. Seine Frau und seine beiden Töchter kennen es nicht anders. Länger als zehn Tage fährt er sowieso nirgends hin. Nur zwei Mal im Jahr für zwei Wochen nach Mosambik oder Kambodscha. Aber nicht um Urlaub zu machen, sondern um zu helfen. Für sein Engagement wurde er 2009 zum Schweizer des Jahres gewählt.

Es ist grausame Gewissheit, dass er mit einem falschen Stich Eltern das Kind nehmen kann

Egal wo auf der Welt er praktiziert: An Patienten mangelt es nicht. Herzfehler sind die häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Eines von hundert Kindern kommt mit einem defekten Herzen zur Welt. Etwa 40 Prozent sind genetisch bedingt. Doch auch Röteln oder eine Vireninfektion während der Schwangerschaft, Medikamente oder ein hoher Alkoholkonsum der Mutter können dazu führen, dass sich das Herz des Fötus falsch entwickelt. Noch vor 30 Jahren wurden herzkranke Kinder in der Regel erst kurz vor der Einschulung operiert. Zu komplex, zu kompliziert waren Operationen an Babyherzen. Viele Kinder starben vor der OP, oft schon wenige Tage nach der Geburt.

Heute können Prêtre und seine Kollegen 95 Prozent der Kinder retten. Gelingt das, schenken sie ihnen nicht nur ein paar zusätzliche Jahre, sondern meist ein ganzes Leben. Vor allem: häufig ein fast normales Leben. An diesem Wunder kann er sich auch nach 30 Jahren noch berauschen. "Die Wissenschaft hat das Herz all seiner Geheimnisse beraubt. Aber es ist für mich immer noch ein magischer Moment, wenn es ein letztes Mal schlägt oder wieder zu schlagen beginnt", sagt Prêtre. Mit der Superman-Begeisterung eines Fünfjährigen spricht er über Schlagadern, Vorkammern, Klappen und Aorten. Manchmal, so scheint es, wird er von lauter Glück, Freude und Dankbarkeit fast erdrückt.

Doch es gibt auch Eltern, die haben ihr Kind trotz oder sogar wegen Prêtre verloren. 2,5 Prozent: Wenn der Chirurg diese Zahl nennt, schwingen Stolz und Schmerz gleichermaßen mit. Stolz, weil 2,5 Prozent angesichts der schwierigen Fälle, die er täglich operiert, nicht viel sind. Schmerz, weil sechs bis acht tote Kinder im Jahr, sechs bis acht Elternpaare, die in seinem Büro zusammenbrechen, eben doch verdammt viel sind, und bei weiteren 2,5 Prozent der Kinder Folgeschäden auftreten. Und weil er bei ein paar wenigen Todesfällen weiß: Es war keine hässliche Laune der Natur. Es war seine Schuld.

Weil das Kind ohne die Operation, die immer ein Risiko ist, vielleicht noch leben könnte. Oder weil er einen Fehler gemacht hat.

Ist es gerecht, in Afrika Gott zu spielen?

Wie lebt es sich mit dieser Schuld? Ist es gerecht, in Mosambik Gott zu spielen, einigen Kindern mit einer Operation das Leben zu retten und andere sterben zu lassen? Ist das Leben eines Menschen vorbestimmt? Welches Leben ist überhaupt lebenswert?

In seinem Buch "In der Mitte schlägt das Herz", das bei Rowohlt erschienen ist, gibt Prêtre sehr persönliche Antworten auf diese Fragen. Überraschend offen schreibt er über seine Arbeit auf dem Hochseil, seine Fehler und seine Selbstzweifel.

Er wuchs auf einem Hof auf. Eigentlich wollte er Bauer werden. Oder Fußballprofi

All diese Fragen jedoch bleiben draußen, wenn der Mediziner "in den Block" geht. An der Schleuse zum Operationstrakt reinigt Prêtre nicht nur seine Hände, sondern auch seinen Kopf. Gedanken über Schuld und Gerechtigkeit lässt er mit seinem Sakko in der Umkleide zurück. Zum Operieren braucht er ein Gehirn, das auch dann noch klar und räumlich denken kann, wenn Herztöne plötzlich ab- oder Lungenflügel zusammenfallen. Nur sein Handy nimmt er mit. Darin immer gespeichert: die Nummer der bangenden Eltern.

Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sich um all diese Fragen nie Gedanken machen müssen. Aufgewachsen auf einem Hof im Schweizer Jura mit sechs Geschwistern, wollte er Bauer werden. Oder Fußballprofi. Kurz vor dem Abitur machte ihn ein Freund auf die ablaufende Bewerbungsfrist für einen Medizinstudienplatz aufmerksam. Prêtre wollte keine Chance verpassen, bewarb sich, wurde genommen.

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Frühchen operiert der Schweizer erst, wenn sie mindestens 1,5 Kilogramm wiegen.

(Foto: Bally/Keystone Schweiz/laif)

Wenn du Herzchirurg werden willst, musst du zehn Jahre lang zehn Stunden am Tag operieren. Diesen Rat gab dem jungen Assistenzarzt Prêtre einst ein erfahrener Kollege in New York. Damals hielt er es für übertrieben. Inzwischen weiß er: Der Mann hatte recht. Die Müdigkeit ist zu seinem treuesten Begleiter geworden. Er bleibt nicht stehen, wenn er sich setzen kann. Er bleibt nicht sitzen, wenn er sich hinlegen kann. Er bleibt nicht wach, wenn er dösen kann. Jede Minute Schlaf zählt - oft jedoch wird er vom Handy aus dem Schlaf gerissen. Lange hat er sich vor jedem Anruf gefürchtet. Zu oft war das Klingeln die Ouvertüre einer Tragödie.

Auch der schwerste Moment in seiner Karriere begann mit einem Anruf: "René, komm schnell, das Mädchen blutet sehr stark." Er war gerade nach Hause gegangen, um sich zu duschen. Die ganze Nacht hatte er einen Jugendlichen operiert, der bei einem Autounfall verunglückt war. Weil er zu müde gewesen war, hatte er einen Kollegen gebeten, die OP am Morgen zu übernehmen, ein kleines Loch im Herzen eines zweijährigen Mädchens, nichts Schwieriges.

Von zu Hause, einen halben Kilometer entfernt, rast er in die Klinik, doch als er ankommt, ist das Mädchen bereits tot. "Alle im Operationssaal waren dem Zusammenbruch nahe", erinnert sich Prêtre. "Wenn ich nur daran denke, sind die Schuldgefühle und der Schmerz sofort wieder da." Diese quälende Erinnerung, er würde sie am liebsten abschütteln wie ein Hund das Wasser, sie loswerden, ein für alle Mal. Mit brüchiger Stimme fährt er fort: "Wir haben den Tod eines Kindes verursacht, das ohne uns noch länger hätte leben können."

"Die Eltern schrien, klammerten sich aneinander, fielen hin"

Obwohl er selbst nicht operiert hat, trägt Prêtre die Verantwortung. Er ist es, der den Eltern die grausame Botschaft überbringen muss, dass ihre Tochter, ein lang ersehntes Wunschkind, nicht wieder aufwachen wird. Selbst völlig gelähmt, bittet er seine Kollegen, ihn zu begleiten. Die Szenen in seinem Büro haben sich in sein Gehirn eingebrannt. "Die Eltern schrien, klammerten sich aneinander, fielen hin, rollten sich am Boden. Der Schmerz dieser Eltern war nicht mehr menschlich, er war einfach nicht mehr auszuhalten. Alle im Raum weinten, keiner sprach mehr ein Wort."

Irgendwann fragt die Sekretärin die Eltern: Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wasser? "Es war so etwas Banales, total Nebensächliches, aber wenigstens durchbrach ihre Frage das unerträgliche Schweigen." Für die nächsten Tage sagt Prêtre alle OPs ab. Seinen Kollegen bittet er, sich eine andere Stelle zu suchen. Es ist das einzige Mal, dass er sich von einem Kollegen trennt. "Wir machen alle Fehler, aber ich konnte mit ihm einfach nicht mehr zusammenarbeiten."

"Trotz allem, was heute möglich ist: Manchmal ist es besser, der Natur ihren Lauf zu lassen."

Diese grausame Gewissheit, dass ein falscher Stich, ein falscher Schnitt ein Leben kosten kann, begleitet den Mediziner jeden Tag. Auch er selbst hat Fehler gemacht. Weil eine seiner Nähte nicht hielt, ist ein junger Mann heute schwer hirngeschädigt. René Prêtre hatte die Mutter zur Korrektur zweier Herzklappen ihres elfjährigen Sohnes überredet. Die Schuld traf den Arzt gleich doppelt. Doch nach der Operation fehlte ihm der Mut, den Eltern gegenüberzutreten. Er versteckte sich hinter dem Telefon und allerlei Fachbegriffen. "Als ich den Hörer aufgelegt hatte, fühlte ich mich unglaublich feige."

Für manche Eltern ist Prêtre der Tod in Person. Für manche ein Pfuscher. Für manche die einzige Hoffnung. Für wieder andere ein Prophet. Einer, der noch während der Schwangerschaft voraussagen kann, was für ein Leben ihr herzkrankes Kind erwartet. Einer, der ihnen raten kann, was nach der Geburt zu tun ist. Denn der medizinische Fortschritt ist für die Eltern nicht immer nur ein Gewinn, sondern kann auch eine große Last sein. Sollen sie ihr Kind operieren lassen, wenn nicht nur das Herz geschädigt ist, sondern auch das Hirn? "Trotz allem, was heute medizinisch möglich ist: Manchmal ist es besser, der Natur ihren Lauf zu lassen", sagt Prêtre. Die Kinder sterben dann nach wenigen Tagen einen natürlichen Tod.

Was hart klingt, ist in seinen Augen eine Art Schutzverantwortung - in der Annahme, dass der Schmerz für die Eltern etwas erträglicher bleibt, wenn sich noch keine Persönlichkeit herausgebildet hat. "Ein Kind zu verlieren, das Zeit gehabt hat, seinen Eltern und Geschwistern Erinnerungen, selbstgemalte Bilder und Fotos zu hinterlassen, kommt einer Amputation gleich." Wenn die Prognose schlecht aussieht, rät er den Eltern daher, ihre Entscheidung für oder gegen eine Operation noch vor der Geburt zu treffen. Alleine als Paar.

Auch er selbst muss immer wieder über Leben und Tod entscheiden, etwa wenn er in Mosambik operiert. Auf einer Liste streicht er dann Namen von Kindern durch, macht bei anderen ein Kreuz. Wie der Kapitän eines zu kleinen Rettungsbootes muss er entscheiden, wem er in den beiden Wochen vor Ort das Leben rettet und wem nicht. Kinder, die nach der Operation eine längere intensivmedizinische Behandlung benötigen, haben in der Regel keine Chance. Doch haben Prêtre und sein Team, mit dem er alle Entscheidungen stets gemeinsam trifft, ein Kind und dessen Eltern erst mal kennengelernt, sind auch sie manchmal hin- und hergerissen zwischen Vernunft (eine komplizierte OP nimmt zwei anderen Kindern die Chance auf eine OP) und Gefühl.

In seiner Heimat, der Schweiz, ist das Boot groß genug, für Kranke und Schwerkranke, für Arme und Reiche. Das 14-jährige Mädchen, das an diesem Morgen vor ihm liegt, ist die Tochter einer Roma-Familie. Während die Assistenzärztin noch die letzte Hautschicht zunäht, verlässt Prêtre den OP. Er humpelt leicht. Vielleicht das kaputte Fußballknie von früher oder das lange Stehen. Noch bevor er durch die Schleuse geht, wählt er die Nummer der Eltern. "Tout c'est bien passé." Alles gut gegangen.

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