Kinder mit Diabetes:Hoffnung auf die künstliche Bauchspeicheldrüse

Messgerät und Insulinpumpe sind die ständigen Begleiter von Kindern mit Typ-1-Diabetes. Künftig könnte eine künstliche Bauspeicheldrüse ihnen das Leben erleichtern. Also Messen und Stechen für immer adé?

Von Katrin Neubauer

Sechsmal, manchmal achtmal pro Tag muss sich Christina in die Finger oder Zehen stechen. Ein Blutstropfen aus den kleinen Gliedern speist ein Messgerät, das ihr den Zuckerwert anzeigt. Den muss die Neunjährige kennen, bevor sie etwas isst, Sport treibt oder schlafen geht. Das Gerät ist ihr ständiger Begleiter in der Schule, auf Verabredungen mit Freunden, auf Klassenfahrt, im Urlaub. Genauso wie die Pumpe, die sie mit Insulin versorgt, das ihr Körper nicht selbst produzieren kann. Christina ist seit fünf Jahren Typ-1-Diabetiker.

Wie Christina müssen die meisten jungen Patienten das Insulin heute nicht mehr umständlich spritzen; ihnen hilft die Pumpe, die sie am Körper tragen. Sie ist mit einem Schlauch verbunden, an dessen Ende eine Kanüle in die Haut führt. Über diesen Katheter erhält der Körper eine kontinuierliche Grundversorgung mit Insulin, auch in der Nacht.

Es ist die derzeit modernste Therapie, und doch erfordert sie viel Aufmerksamkeit von den Betroffenen. Wie viel Insulin die Pumpe abgibt, muss immer wieder neu eingestellt werden; Alter, Jahres- und Tageszeit, Aktivitäten und Mahlzeiten müssen berücksichtigt werden. Blutzuckerschwankungen kommen zwar nicht so häufig vor wie beim Spritzen, lassen sich aber auch mit Pumpe nicht komplett vermeiden.

Insbesondere in den Nachtstunden kann es zu den gefürchteten Unterzuckerungen (Hypoglykämien) kommen. "Im Schlaf spüren die meisten Kinder nicht, wenn der Blutzucker plötzlich absinkt und gerade im Kindesalter können die Schwankungen enorm sein", sagt Olga Kordonouri, Chefärztin am Kinderkrankenhaus "Auf der Bult" in Hannover, einem Diabeteszentrum für Kinder. Fallen die Blutzuckerwerte stark ab, erhält das Gehirn nicht mehr ausreichend Energie. Das Nervensystem kann geschädigt werden. Schwere Unterzuckerungen können zu Bewusstseinsstörungen, Koma und sogar zum Tod führen.

Auch tagsüber kann der Blutzuckerspiegel entgleisen, etwa durch längere körperliche Anstrengung. Ebenso können hormonelle Prozesse im Körper, insbesondere in Wachstumsphasen, die Werte unerwartet schwanken lassen. Das Gleiche kann passieren, wenn Kinder bei der Messung oder Handhabung Fehler machen oder vergessen, die richtigen Werte vor den Mahlzeiten einzustellen.

Ein neues System, genannt Closed Loop (geschlossener Kreislauf), soll diese Unsicherheiten vor allem bei Kindern beseitigen, indem es die Aufgaben der gesunden Bauchspeicheldrüse weitgehend simuliert. Ein Sensor misst im Gewebe unter der Haut permanent den Zucker. Die Werte überträgt er per Funk an einen Computer, der wiederum die Pumpe anweist, wie viel Insulin abzugeben ist.

Nächtliche Unterzuckerungen lassen sich reduzieren

Das heißt: Die künstliche Bauchspeicheldrüse rechnet anhand der Zuckerdaten selbstständig die abzugebende Insulinmenge aus - und zwar ständig. Sinkt der Zucker unter eine bestimmte Grenze, schlägt das System Alarm und stoppt die Zufuhr des Insulins, das den Spiegel weiter senken würde. "Der Computer reagiert, wie das menschliche Gehirn, automatisch auf den ansteigenden Zucker im Körper", sagt Olga Kordonouri.

Mehrere Studien haben gezeigt, dass damit vor allem nächtliche Unterzuckerungen reduziert werden. Kordonouri und Kollegen haben das System erstmals auch außerhalb der künstlichen Bedingungen in einer Klinik getestet: Sie untersuchten Kinder in Ferienlagern. In der 2013 im New England Journal of Medicine veröffentlichten Arbeit zeigte sich die künstliche Bauchspeicheldrüse ebenfalls der herkömmlichen Pumpe überlegen. Nächtliche Unterzuckerungen waren seltener und kürzer, die Blutzuckerwerte insgesamt stabiler.

Gehört das Messen und Stechen nun bald der Vergangenheit an? Nicht ganz. Für die Einstellung des Sensors sind je nach Hersteller ein bis zwei herkömmliche Blutzuckermessungen pro Tag nötig. Der Sensor selbst muss alle fünf bis sieben Tage neu gelegt werden. Der Katheder muss - wie bei der derzeit gängigen Pumpe auch - alle zwei bis drei Tage gewechselt werden. Betroffene müssen zudem das Spritzen weiter beherrschen. Denn ein Ausfall der Technik oder ein Verstopfen der Kanülen ist, wie beim herkömmlichen System, nie ganz ausgeschlossen.

Ein Manko ist derzeit noch, dass Sensor und Pumpe noch mit einem externen Rechner verbunden sind. "Für die Marktreife wäre denkbar, den Computer entweder in die Pumpe zu integrieren oder in Form eines kleinen Akkus mitzuführen", sagt Kordonouri. Bis zur Marktreife werde es aber noch mindestens zwei Jahre dauern. "Langfristig erhoffen wir uns davon Werte, die in Richtung derer von gesunden Menschen gehen", sagt die Forscherin.

Hintergrund: Typ-1-Diabetes

Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunerkrankung. Dabei richtet sich die körpereigene Abwehr gegen die insulinproduzierenden Beta-Zellen (genannt auch Langerhanssche Inselzellen) der Bauchspeicheldrüse und zerstört diese. Das passiert in einem monate- bis jahrlangem verborgenen Prozess. Die Krankheit macht sich meist erst dann bemerkbar, wenn etwa 80 Prozent der Inselzellen zerstört sind. Sie kann in jedem Alter auftreten, häufig sind aber schon Kinder betroffen.

Symptome sind ständiger Durst, häufiges Wasserlassen, Müdigkeit und Gewichtsverlust. Denn da die Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr produziert, können die mit der Nahrung aufgenommenen Kohlenhydrate nicht mehr in die Zellen transportiert werden. Stattdessen bleibt der Zucker im Blut, aus dem die Nieren ihn mittels vermehrter Urinproduktion versuchen "herauszuwaschen".

Anders als viele Patienten mit Typ-2-Diabetes, auch Altersdiabetes genannt, sind die Typ-1-Diabetiker auf eine ständige Insulinzufuhr angewiesen. Eine Heilung gibt es derzeit nicht.

Mittlerweile ist Typ-1-Diabetes die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindesalter. Etwa 30.500 Betroffene unter 20 Jahren gibt es. Zählte Typ-1-Diabetes früher eher zu den selteneren chronischen Krankheiten im Kindes- und Jugendalter, nimmt die Zahl der Neuerkrankungen seit einigen Jahren rasant zu und trifft auch zunehmend jüngere Kinder. So rechnen Experten damit, dass es 2020 doppelt so viele Fünfjährige mit Diabetes-Typ-1 geben wird wie noch im Jahr 2005. Die Gründe für den Anstieg sind nicht klar.

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