HIV:Forscher entkräften Mythos um die Ausbreitung von Aids

Südafrikas Kampf gegen Aids

Aids-Test: Nur ein paar Tropfen Blut reichen, um das HI-Virus zu bestimmen.

(Foto: John Hrusa/dpa)
  • Ein Flugbegleiter galt als derjenige, der die Immunschwächekrankheit Aids in die USA bebracht hat.
  • Neue Daten belegen, dass "Patient O" wohl einer von vielen war, die sich zu jener Zeit bereits mit HIV infiziert hatten
  • Die ersten HI-Viren gelangten bereits früh in den 1970er-Jahren von karibischen Inseln, wahrscheinlich aus Haiti, in die USA.

Von Hanno Charisius

An dem Tag im Jahre 1982, an dem ein Mitarbeiter der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC bei einer Abschrift aus seinen Unterlagen den Buchstaben "O" mit der Ziffer Null verwechselte, wurde aus einem kanadischen Flugbegleiter der Mann, der die Immunschwächekrankheit Aids in die USA gebracht hat. Fortan tauchte er in der Literatur als "Patient Null" auf.

So wird der Ersterkrankte einer Epidemie bezeichnet oder auch als "Indexpatient", der am Anfang eines Ausbruchs steht. So wurde durch eine kleine Unachtsamkeit ein Unschuldiger ins Licht der Geschichte gerückt. Jetzt zeigen Untersuchungen alter Blutproben: Der Flugbegleiter konnte nicht der Erste gewesen sein, der das Aids-verursachende HI-Virus in die USA eingeschleppt hat. Die neuen Daten belegen, dass "Patient O" wohl einer von vielen war, die sich zu jener Zeit bereits mit HIV infiziert hatten. Er hat wahrscheinlich viele andere Menschen angesteckt, doch er war nicht der Ursprung der Seuche in den USA und im Rest der westlichen Welt.

In New York brannte die Epidemie heißer und schneller als jemals zuvor

Am Anfang des Missverständnisses standen Ärzte in Kalifornien, die in den frühen 1980er-Jahren den Ursprung einer neuen Infektionskrankheit aufspüren wollten. Die Seuche breitete sich scheinbar nur unter homosexuellen Männern aus. Unter den 248 ersten Aidskranken in den USA fanden sie 40 homosexuelle Männer in zehn Städten, die durch ein Netz sexueller Kontakte miteinander verbunden waren. In dessen Zentrum stand der Patient mit der Nummer 57, der kanadische Steward. Weil er nicht aus Kalifornien stammte, wurde er in den Unterlagen mit einem O geführt, ein O für: outside of California. Dann wurde aus dem O eine Null und der Flugbegleiter zum Sündenbock, zumindest in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit.

Bereits damals betonten die CDC-Ärzte, dieser Patient im Zentrum des Netzwerks müsse den Erreger nicht zwangsläufig eingetragen haben. Doch vor allem durch das 1987 erschienene Buch "And the band played on - Die Geschichte eines großen Versagens", in dem der Journalist Randy Shilts sogar den Flugbegleiter bei vollem Namen nannte, verbreitete sich die Legende vom Patienten Null und ließ sich trotz mehrfacher Entlastungsversuche durch verschiedene Wissenschaftler seither nicht wieder aus der Welt schaffen.

In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals Nature unternehmen der Evolutionsbiologe Michael Worobey von der University of Arizona in Tucson und seine Kollegen einen neuen Versuch, den Irrglauben aufzulösen. Sie analysierten mehr als 2000 Serumproben, die zwischen 1978 und 1979 von amerikanischen Männern genommen worden waren. Das Erbgut darin, hatte sich während der jahrzehntelangen Lagerung zwar weitgehend zersetzt, doch gelang es dem Expertenteam acht nahezu vollständige Erbgutsequenzen von HI-Viren zu rekonstruieren, die einiges über den Ursprung der Seuche verraten.

"Wer das Virus transportiert hat, ist vollkommen unklar"

Überrascht war Worobeys Arbeitsgruppe vor allem von den großen genetischen Unterschieden, die sich zwischen den einzelnen gefundenen Viren offenbarten. Daraus schließen sie, dass der Erreger bereits eine Weile in der Bevölkerung zirkuliert haben muss, als die Proben genommen wurden. Sonst hätten die Unterschiede kleiner sein müssen, denn Veränderungen im Erbgut häufen sich mit der Zeit an, was eine biologische Datierung erlaubt.

Durch Vergleiche mit weiteren alten Virusproben kommen Worobey und Kollegen zu dem Schluss, dass die ersten HI-Viren bereits früh in den 1970er-Jahren von karibischen Inseln, wahrscheinlich aus Haiti, womöglich mehrmals, in die USA und dort bald nach New York City gelangten. Damit bestätigen sie ältere Untersuchungen, die ebenfalls diese Reiseroute der Viren beschrieben hatten. "In New York stieß das Virus auf eine Bevölkerung, die wie trockener Zunder war", sagt Worobey. Die bis dahin unbemerkte Epidemie "brannte dort heißer und schneller und infizierte genug Menschen, um erstmals weltweite Aufmerksamkeit zu erregen". Von der Riesenstadt an der Ostküste der USA breitete sich das Virus über das gesamte Land aus und erreichte spätestens 1978 auch die Westküste.

Die alten Virusgene bestätigen aber auch die alten Hypothesen, nach denen der Erreger ursprünglich in den 1920er-Jahren von Affen in Afrika auf Menschen übersprang und um 1967 herum die Karibik erreicht hatte. Den Sprung von Haiti in die USA machte das Virus möglicherweise im Blut von heimkehrenden Sextouristen oder in verunreinigten Spenderblutchargen. Dazu gibt es verschiedene, unbewiesene Theorien. "Wer das Virus transportiert hat, ist vollkommen unklar", sagt Worobey.

Der Evolutionsgenetiker betont, dass es zahlreiche HI-Virustypen und Untergruppen gibt, der in den USA aufgetauchte Erreger jedoch ein besonders wichtiger sei, "nicht nur weil er der Erste war, der entdeckt wurde, sondern auch, weil er viele Menschen befällt". Seine Analysen zeigen, dass die Viren aus dem konservierten Blut des vermeintlichen Patienten Null sich deutlich von den ältesten bekannten amerikanischen HI-Viren unterscheiden und sich der Flugbegleiter somit einige Zeit, nachdem das Virus erstmals ins Land kam, angesteckt haben kann. "Der Mann war mit Sicherheit nicht der erste amerikanische Aidspatient", sagt auch der Wissenschaftshistoriker Richard McKay von der britischen University of Cambridge, der mit Worobey zusammengearbeitet hat. "Er war einer von Tausenden, die zu dem Zeitpunkt bereits infiziert waren."

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