Hirntod-Diagnostik:Annäherungen an den Tod

Prof. Dr. Claudia Wiesemann

Claudia Wiesemann, 56, ist Professorin für Medizinethik an der Universität Göttingen und Mitglied im Deutschen Ethikrat.

(Foto: Ethikrat)

Immer wieder äußern sich Vertreter der Ärzteschaftin einlullenden Worten zur Sicherheit der Hirntod-Diagnostik. Tatsächlich aber ist diese Diagnose viel schwieriger, als behauptet wird. Der sensible Bereich ist nicht einmal umfassend erforscht.

Ein Gastbeitrag von Claudia Wiesemann

Lange Zeit haben Vertreter der deutschen Ärzteschaft die Vorstellung aufrechterhalten, der Hirntod sei in etwa so einfach und sicher zu diagnostizieren wie ein offener Knochenbruch. Mehr und mehr wird aber deutlich: Das stimmt nicht. Die Nachprüfung von Hirntod-Diagnosen durch kritische Neurologen und Journalisten zeigt, wie oft Fehler und Ungereimtheiten auftreten. Der Grund dafür ist meist nicht Schlamperei. Vielmehr werden die besonderen Schwierigkeiten der Hirntod-Diagnostik auch von vielen Ärzten nicht ausreichend verstanden.

Die Diagnose Hirntod ist kein Ergebnis direkter ärztlicher Beobachtung, sondern Resultat komplexer logischer Schlüsse. Denn im Koma lassen sich die Funktionen des Gehirns nur indirekt erfassen. Die Hirntod-Diagnose am Ende einer Vielzahl funktioneller Untersuchungen einzelner Gehirnabschnitte beruht auf Schlüssen aus verschiedenen, miteinander kombinierten Befunden. Keine Untersuchung kann allein direkt und unmittelbar den Tod auch nur einer Gruppe von Zellen beweisen, geschweige denn den Tod sämtlicher Zellen des Gehirns. Ins Gehirn lässt sich eben nicht so einfach hineingucken.

Ein Hauptproblem besteht darin, dass fast alle Techniken nur den momentanen Ausfall nachweisen, nicht aber den dauerhaften Untergang. Wenn das EEG eine Null-Linie zeigt, dann kann es sich ebenso gut um einen tief komatösen Menschen handeln. Das Fehlen einer Funktion im Gehirn heißt eben nicht, dass diese Funktion für immer erloschen ist.

Um diesen für die Hirntod-Diagnostik so wichtigen Schluss zu ziehen, muss man mehrere Untersuchungen kombinieren, sie zu mehreren Zeitpunkten durchführen und ergänzen durch das Wissen um die Vorgeschichte der Hirnschädigung. Nur aus der Kombination dieser sehr unterschiedlichen Erkenntnisse kann man im Einzelfall mit einer ausreichenden Sicherheit ableiten, dass alle Hirnzellen abgestorben sind.

Das Wissen um die Vorgeschichte ist dabei unerlässlich: Ist der Ausfall der Hirnfunktionen Folge einer schweren Hirnschädigung, etwa nach einem massiven Schlaganfall, oder einer Tablettenintoxikation? Der intoxikierte Patient kann das Bild eines Hirntods zeigen, obwohl seine Hirnfunktionen nicht irreversibel erloschen sind und nach Abklingen der Medikamentenwirkung wiederherstellbar sind. Deshalb weisen die Richtlinien der Bundesärztekammer auf die Gefahr einer Verwechslung von Hirntod und Intoxikation hin.

Nicht alle Ärzte sind so kompetent, aber auch kritisch und zweifelnd, wie es nötig wäre

Doch wie oft kennen die Ärzte auf der Intensivstation tatsächlich die Vorgeschichte des Patienten? Wie oft sind sie ausreichend skeptisch, wenn ein Patient nach einem Verkehrsunfall eingeliefert wird? Der Unfall kann Folge einer Medikamentenüberdosis sein.

Mehr noch: Ein Patient, der tatsächlich einen Schlaganfall hat, kann zugleich eine Medikamentenintoxikation aufweisen, die aber durch die eher ins Auge fallenden Symptome des Schlaganfalls kaschiert wird. Erschwerend kommt schließlich hinzu, dass intensivpflichtige Patienten mit begleitenden Herz-Kreislaufproblemen oft Leber- und Nierenfunktionsstörungen haben. Medikamente, die einen Hirntod imitieren, werden dann sehr viel langsamer abgebaut und ausgeschwemmt und wirken dadurch länger als üblich.

All diese Schwierigkeiten können von einem sehr erfahrenen Arzt, der die Tücken der Hirntod-Diagnostik realistisch einschätzt, beherrscht werden. Aber wie oft wird die Untersuchung von einem solchen idealen, kritischen Diagnostiker durchgeführt? Wo bleiben die systematischen Kontrollen der Qualität der Diagnostik, die man bei einer Untersuchung mit so schwerwiegenden Folgen selbstverständlich erwarten darf?

In der Öffentlichkeit haben sich Vertreter der Ärzteschaft immer wieder in beruhigenden, ja einlullenden Worten zur Sicherheit der Hirntod-Diagnostik geäußert. Die Botschaft, die nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch beim durchschnittlichen Arzt ankommt, ist: keine Sorge, den Hirntod festzustellen ist in etwa so einfach und sicher wie die Diagnose eines Herzinfarkts. Wie viele Intensivmediziner werden systematisch auf die Probleme der Diagnostik in der Praxis vorbereitet?

Aber schlimmer noch: Diese Haltung führt dazu, dass systematische Forschung zur Falsifizierung der Hirntod-Diagnostik nicht ausreichend ernst genommen wird. Der Versuch einer Falsifizierung ist eigentlich das wissenschaftlich angemessene Verfahren für eine so folgenträchtige Diagnostik. Wissenschaftler müssten systematisch untersuchen, ob die These, der Untergang sämtlicher Gehirnzellen lasse sich sicher diagnostizieren, nicht widerlegt werden kann.

Studien wie die von Welschehold et al., die 2012 im Deutschen Ärzteblatt erschienen, problematisieren wichtige Aspekte der Hirntod-Diagnostik, ihre Konsequenzen werden aber nicht offen diskutiert. Welschehold und seine Arbeitsgruppe verglichen die Kontrastdarstellung der Hirngefäße (CT-Angiografie) mit anderen Techniken wie dem EEG oder der Ultraschall-Doppler-Untersuchung und stellten fest, dass sich in 14 Prozent der Fälle voneinander abweichende Befunde ergaben.

Andersherum: Wenn die CT-Angiografie nicht durchgeführt wird, dann könnte in bis zu 14 Prozent der Fälle eine noch vorhandene Restdurchblutung des Gehirns übersehen werden. Doch bis heute müssen Untersucher nicht begründen, warum sie die Diagnostik für unnötig halten.

Was sind die praktischen Folgen dieses Wegschauens? Um einen Therapieabbruch in Betracht zu ziehen, bedarf es keines sicheren Nachweises des Untergangs jeder einzelnen Hirnzelle. Das lässt sich auch dann schon rechtfertigen, wenn die Schädigungen des Gehirns weitreichend sind, ein Überleben mit ausreichender Lebensqualität nicht möglich ist und deshalb vom Patienten nicht gewünscht wird. Aber eine Organentnahme in einer solchen Situation hat für den Patienten gravierende Konsequenzen. Wie sicher können die operierenden Ärzte sein, dass dieser Patient keinerlei Empfindungen mehr verspürt?

Vertreter des Hirntod-Konzepts haben immer wieder betont, eine Schmerzausschaltung bei der Organentnahme sei nicht nötig. Angesichts der Probleme bei der Hirntod-Feststellung muss das beunruhigen. Angemessener wäre es, sich der Tatsache zu stellen, dass der Hirntod nur näherungsweise festgestellt werden kann, dass dies großer, selbstkritischer Expertise bedarf und dass in jedem Fall die Organentnahme unter maximalem Schutz des Patienten durchgeführt werden muss. Letztlich ist nur eine Frage wichtig: Wie sichert man das ärztliche Gebot des Primum nil nocere, der Vermeidung von Schaden?

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