Herzinfarkt:Therapie auf Verdacht

Cholesterinsenker helfen zwar Patienten, die bereits einen Herzinfarkt hatten. Doch offenbar können sie bei "Risikopatienten" mit erhöhten Cholesterinwerten einen ersten Infarkt nicht verhindern.

Werner Bartens

Für Kardiologen und andere Ärzte, die sich um das Herz ihrer Patienten sorgen, ist die Welt schon lange in Gut und Böse unterteilt. Böse und damit gefährlich für die Herzkranzgefäße sind nicht nur Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes und Bewegungsmangel, sondern auch Konstellationen der Blutfette, bei denen das LDL-Cholesterin deutlich erhöht ist.

Herzinfarkt: Allein mit Medikamenten, die den bekannten Wirkstoff Atorvastatin enthalten, wurde 2007 weltweit ein Verkaufserlös von mehr als zwölf Milliarden Dollar erzielt.

Allein mit Medikamenten, die den bekannten Wirkstoff Atorvastatin enthalten, wurde 2007 weltweit ein Verkaufserlös von mehr als zwölf Milliarden Dollar erzielt.

(Foto: AP)

Im Volksmund wird es längst als "böses" Cholesterin bezeichnet. Ist hingegen das "gute" HDL-Cholesterin erhöht, kann dies die Folgen genetischer Belastungen oder eines ungesunden Lebensstils mildern oder gar neutralisieren, lautet die verbreitete Annahme.

So weit, so vereinfacht. Denn längst wissen Ärzte um gleich mehrere Rätsel rund ums Cholesterin, die schlecht in das bequeme Schema von Gut und Böse passen. Schließlich macht bei fast der Hälfte aller Infarktpatienten das Herz schlapp, obwohl die Blutfettspiegel im normalen Bereich lagen. Und immer wieder sehen Ärzte bei der Katheteruntersuchung Patienten mit erhöhten Cholesterinwerten, deren Herzkranzgefäße nicht verklumpt und verengt, sondern glatt und durchlässig sind wie bei einem Säugling.

Diese offensichtlichen Widersprüche halten Mediziner nicht davon ab, Cholesterinsenker in großem Maßstab zu verschreiben, die vor allem das LDL vermindern. Die in Deutschland jährlich verordneten Statine reichen für die Behandlung von mehr als fünf Millionen Menschen.

Wer von der Therapie mit Cholesterinsenkern profitiert, ist wissenschaftlich jedoch umstritten. Belegt zu sein scheint der Nutzen der Statine vor allem in der Sekundärprävention. Damit ist die Behandlung von Patienten gemeint, die bereits einen Infarkt hatten und davor geschützt werden sollen, dass die Kranzgefäße erneut dicht machen. Diese Gruppe macht - großzügig gerechnet - in Deutschland allenfalls eineinhalb Millionen Menschen aus.

Die weitaus größere Gruppe, die mit Statinen behandelt wird, sind allerdings jene zu "Risikopatienten" erklärten Menschen, die noch keinen Infarkt hatten, auch nicht über Beschwerden klagen, aber erhöhte Cholesterinwerte und womöglich andere Risikofaktoren aufweisen.

"Der Nutzen ist gering - falls es überhaupt einen gibt"

Nach Ansicht vieler Ärzte und den Empfehlungen kardiologischer Fachgesellschaften kann sie nur die rigorose Senkung der Blutfette davor schützen, einen Infarkt oder gar den baldigen Herztod zu erleiden. Diese Form der Behandlung wird als Primärprävention bezeichnet und macht den größeren Marktanteil der Statine aus. Allein mit dem bekanntesten Wirkstoff Atorvastatin wurde 2007 weltweit ein Verkaufserlös von mehr als zwölf Milliarden Dollar erzielt.

Eine große Meta-Analyse, die vor kurzem im Fachblatt Archives of Internal Medicine erschienen ist, findet allerdings keine Nutzenbelege für die Behandlung Gesunder mit Statinen (Bd.170, S.1024, 2010). Elf Untersuchungen mit insgesamt mehr als 65.000 Patienten wurden in die Analyse aufgenommen. Unter den Probanden, die regelmäßig Statine einnahmen, gab es nach knapp vierjähriger Beobachtungszeit nicht mehr Todesfälle als in der Gruppe jener Teilnehmer, die nur ein Placebopräparat bekamen.

"Die Studie zeigt, dass der Nutzen der Statine für die Primärprävention kurzfristig gering ist - sofern es ihn überhaupt gibt", sagt Lee Green von der Universität Michigan. "Was den langfristigen Nutzen angeht, müssen wir zugeben, dass wir es nicht wissen."

Green sieht die vielen Artikeln widersprechenden Ergebnisse der Meta-Analyse als Indiz dafür, dass gerade in der Cholesterinforschung zu viele Studien industrieabhängig seien und von Forschern geleitet werden, die Beraterhonorare erhalten. In derselben Ausgabe der Archives of Internal Medicine zeigt ein Team um den Herzspezialisten Michel de Lorgeril aus Grenoble die Verzerrungen in einer hochrangig publizierten Studie mit einer Pharmafirma als Sponsor (Bd.170, S.1032).

Typisch für industrieabhängige Untersuchungen sei der frühe Abbruch, sobald sich positive Daten für das untersuchte Mittel abzeichnen. "So wird der Nutzen aufgebläht, die Gefahr unterschätzt, die Kosten für die Firma sinken und das Marketing kann früher beginnen", sagt Green.

"Die beteiligten Wissenschaftler geben zwar an, dass sie die Studien aus guten Gründen abbrechen. Aus der Sozialpsychologie weiß man aber, dass Menschen stark auf finanzielle Anreize und andere Belohnungen reagieren - auch wenn sie fest davon überzeugt sind, dass sie es nicht tun."

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