Grippe-Verlauf:Google als Gesundheitsamt

Grippe, Fieber, Husten: Suchanfragen im Internet sind für Mediziner längst eine wertvolle Datenquelle. Schneller als jede Behörde erkennen Suchmaschinen den Verlauf aktueller Epidemien. Schon fragen sich Forscher: Liefert Twitter vielleicht noch bessere Informationen?

Von Patrick Illinger

Wo derzeit die Grippe wütet? Diese Frage stellt man im digitalen Zeitalter besser nicht mehr Medizinern, sondern einer Firma, deren Geschäftsmodell ansonsten wenig mit Gesundheitsfragen zu tun hat. Google, der von einer Suchmaschine zur allumfassenden Informationsplattform aufgestiegene Weltkonzern, verfügt mutmaßlich über die besten und aktuellsten Informationen zur Verbreitung der Grippe. Und nicht nur das: Auch andere Krankheitswellen lassen sich dort praktisch in Echtzeit verfolgen, übrigens ebenso wie die momentane Situation am Arbeitsmarkt oder das Trinkverhalten der Menschen.

Längst liefert Google nicht mehr nur Information an seine Nutzer. Der Konzern nutzt auch seine Nutzer, um Information zu erhalten. Wer Fragen stellt, und seien es nur Suchanfragen, verrät schließlich etwas über seine aktuellen Interessen und Bedürfnisse. Dabei geht es in diesem Fall nicht um Suchbegriffe, die von Google registriert und verwendet werden, um passgenaue Werbung zu platzieren. Es geht um statistische Analysen der Gesamtheit der Suchanfragen, aus denen sich aktuelle Entwicklungen und Strömungen destillieren lassen. "Google Trends" nennt der Konzern das. Und es ist beileibe nicht nur eine Spielerei.

Bereits 2009 hat eine wissenschaftliche Publikation in der Zeitschrift Nature nachgewiesen, dass die aus Google Trends (mittlerweile gibt es die Unterkategorie "flutrends", also Grippetrends) ermittelten Daten verblüffend präzise mit Erhebungen der Gesundheitsbehörden übereinstimmen.

Mit einem Unterschied: Die offiziellen Stellen kennen ihre Daten deutlich später als Google, oft sogar erst dann, wenn aktuelle Epidemien bereits wieder abklingen oder es zu spät ist, um auf anrollende Krankheitswellen zu reagieren. Behörden bekommen Daten bekanntlich auf offiziellen Dienstwegen, zum Beispiel von Krankenhäusern oder niedergelassenen Ärzten. Das braucht Zeit, viel mehr Zeit, als nötig ist, um einen Suchbegriff wie "Grippe", "Fieber", "Influenza" oder "Tamiflu" im Internet einzutippen. Eine Umfrage des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew hat ergeben, dass jeder dritte US-Bürger das Internet für Fragen zur eigenen Gesundheit nutzt. Die allermeisten beginnen, indem sie bei Google einen Begriff eingeben.

Was bringt Twitter?

Zur Grippe veröffentlicht Google täglich aktuelle Statistiken. Demnach wütet die saisonale Grippewelle derzeit am heftigsten in den USA und in Japan. In Deutschland war das Interesse an Grippe - und somit wohl auch die Infektionsrate - in dieser Woche geringer. Bayern und Baden-Württemberg laufen in der Google-Statistik unter der Kategorie "niedrig". Etwas stärker scheint das Influenza-Virus in Sachsen und Berlin zu grassieren, im weltweiten Vergleich jedoch nur in der Kategorie "mittel". Der zeitliche Verlauf für einzelne Länder, ja sogar Bundesländer, legt zudem nahe, dass die USA von einer deutlich heftigeren Grippewelle heimgesucht werden als in den vergangenen Jahren. Der Höhepunkt wurde jedoch in den vergangenen Tagen überschritten. Die einschlägigen Suchanfragen gehen leicht zurück.

Noch mehr Information als eine Suchanfrage könnten die Kurzmitteilungen des Online-Dienstes Twitter liefern. Dort teilen die Nutzer in den sogenannten Tweets oft persönliche Informationen mit wie: "Liege mit 40 Grad Fieber im Bett. Arzt sagt Grippe." Was sich aus diesem digitalen Gezwitscher an generellen Trends herauslesen lässt, haben nun Forscher der Brigham Young University in Provo (Utah) zu erkunden versucht.

Knapp 24 Millionen Tweets von 9,5 Millionen Twitter-Nutzern haben sie analysiert. Als nachteilig erweist sich bei dieser Datenquelle jedoch, dass weniger als drei Prozent aller Twittermitteilungen den exakten Aufenthaltsort des Nutzers verraten. Diese Information muss entweder im Tweet selbst stehen oder in GPS-Daten, wie sie zum Beispiel in einer angehängten Bilddatei versteckt sein können. Immerhin gelang es den Forschern, bei jedem sechsten Nutzer zumindest die Stadt oder den Bundesstaat zu ermitteln. Damit sei eine "kritische Masse" an Daten erreicht, scheiben die Forscher, aus der sich womöglich nützliche Hinweise für Gesundheitsbehörden und Ärzte ergeben.

Bis das so weit ist, dient Twitter als das, was es sein soll: ein Medium, mit dem seine Nutzer schnell Essenzielles von anderen erfahren. In Chicago zum Beispiel, wo in der vergangenen Woche der Grippe-Notstand ausgerufen wurde, können Twitternutzer unter dem Stichwort (Hashtag) #fluchicago die nächstgelegenen Impf-Stellen finden.

Wer soziale Medien für eine unwissenschaftliche oder vage Informationsquelle hält, sollte spaßeshalber unter www.google.de/trends mal einen Begriff wie "Cocktail" eintippen. Mit der Präzision eines EKGs schießt die Kurve jeden Samstag nach oben, und zeigt an Silvester den heftigsten Ausschlag. Zufall? Dann bitte noch "Kater" eingeben, gemeint ist der Zustand nach durchzechter Nacht. Siehe da, die gleiche Kurve erscheint, wenn auch tendenziell um einen Tag verschoben. Für alkoholbedingte Probleme interessieren sich die Deutschen offenbar Sonntags am meisten. Vielleicht ist das nicht überraschend. Aber in dieser Deutlichkeit doch erstaunlich.

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