Gesundheitssystem:Rettet die Medizin vor der Ökonomie

Wer krank ist, wünscht sich eine individuell ausgerichtete Fürsorge. Doch die Heilkunde unterwirft sich immer stärker der Wirtschaft, Krankenhäuser werden zu Fabriken, Patienten zu zahlenden Kunden, warnen Harvard-Mediziner.

Werner Bartens

Es ist ein Alarmruf, und aus ihm spricht mindestens so viel Trauer wie Empörung. Schließlich steht die Zukunft der Medizin auf dem Spiel. Die Harvard-Mediziner Pamela Hartzband und Jerome Groopman beklagen im New England Journal of Medicine vom heutigen Donnerstag, die Heilkunde unterwerfe sich immer stärker der Ökonomie und Krankenhäuser würden zu Fabriken (Bd. 365, S. 1372, 2011).

In Europa sterben mehr Menschen in Folge einer Operation als Ärzte bisher dachten.

Patienten sind keine Patienten mehr, sondern 'Kunden' oder 'Konsumenten'. Ärzte und Pflegekräfte haben sich zu ,medizinischen Leistungserbringern' gewandelt", beklagen Harvard-Wissenschaftler.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

Die neue Sprache der Medizin - so der Titel ihres Beitrags - spiegele die Umwertung von der individuell ausgerichteten Fürsorge hin zur industrialisierten Krankenbehandlung bereits deutlich wider.

Patienten sind keine Patienten mehr, sondern 'Kunden' oder 'Konsumenten'. Ärzte und Pflegekräfte haben sich zu 'medizinischen Leistungserbringern' gewandelt", beklagen Hartzband und Groopman. In Medien, in Fachmagazinen und sogar während der Visite würden diese Begriffe immer häufiger verwendet. Synonym seien sie aber keineswegs.

Patient leite sich vom Lateinischen patiens ab, das bedeute so viel wie leiden und aushalten können. Der Begriff Doktor stamme von docere, was lehren bedeutet. Der Arzt leitet sich vom Griechischen iatros ab, dem Heiler. In Wortschöpfungen wie "medizinische Dienstleister" oder "Leistungserbringer" findet sich der fürsorgliche Aspekt nicht wieder.

Für Hartzband und Groopman sind diese sprachlichen Veränderungen Ausdruck einer Krise, in der sich die Medizin in vielen wohlhabenden Ländern befindet. Die ständigen Reformen dienten oft einzig dem Ziel, die Krankenversorgung zu standardisieren.

Archaische Begriffe wie Patient, Arzt oder Pfleger passen demnach nicht mehr in einen Krankenhausalltag, der den Fertigungsprozessen in der Industrie angepasst werden soll. Auf das Verhältnis zwischen Ärzten, Pflegekräften und Patienten wirke sich die Wortwahl aus. Diese individuelle Beziehung werde in die Begrifflichkeit von Geschäftskontakten überführt.

In Deutschland wird die Sorge vor der zunehmenden Ökonomisierung der Medizin von vielen Ärzten artikuliert. Standardisierte Verfahren wie Disease Management Programme für die Arztpraxen fassen Krankheiten zusammen, dabei kommen individuelle Eigenheiten der Kranken oft zu kurz.

In Kliniken wird nach codierten Diagnosen und DRG (Diagnosis Related Groups) abgerechnet - oft verbiegen Ärzte ihre Diagnosen so lange und erfinden neue hinzu, bis sie in den Krankheitenkatalog passen. Mit dem Erleben und Befinden der Kranken hat das oft nichts mehr zu tun.

Hartzband und Groopman konstatieren, dass der Patient zum Kunden wird, der etwas kauft, der Arzt zum Verkäufer. Die wichtigen psychologischen, spirituellen und humanistischen Aspekte der Beziehung zum Patienten, Altruismus und Barmherzigkeit, drohten darüber verloren zu gehen - dabei hätten sie die Medizin für viele erst zu einer Berufung gemacht.

Dass der Doktor den Kranken lehren könne, wie es zu seiner Krankheit gekommen ist und wie er wieder gesunden kann, verschwinde hinter den neuen Dienstleistungsbegriffen der Medizin ebenso wie die fürsorgliche Arbeit der Pflegenden. Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Versorgung statt individuelle Zuwendung, die sich dynamisch nach den Patientenbedürfnissen entwickelt, seien Kennzeichen dieser neuen Medizin.

Schleichender Wertewandel

Wird die Medizin auf die Monetik reduziert, befürchten Hartzband und Groopman, dass nur noch die Karikatur einer Arzt-Patienten-Beziehung übrigbleibt. Der schleichende Wertewandel, der dadurch die Medizin ergreife, könne nicht überschätzt werden. Er zeige sich auch darin, dass Ärzte, für die merkantile Interessen im Vordergrund stehen, jahrhundertelang - etwa bei Molière oder Turgenew - dem Gespött ausgesetzt und als Scharlatane verhöhnt wurden, die ihren Beruf verraten haben.

Einher mit der Neuorientierung der Medizin ginge die Geringschätzung dessen, was lange als "klinisches Urteil" der Ärzte hoch geachtet war. Statt die Erfahrung der Heilkundigen zu würdigen, würden Leitlinien dominieren - so wie in Fabriken Gebrauchsanweisungen für Geräte. Das klinische Urteil hingegen werde als subjektiv und unwissenschaftlich diskreditiert.

Dabei werde verkannt, dass es in der Medizin nie objektive Daten geben könne, sondern Befunde immer in den individuellen Kontext eingeordnet werden müssen.

Auch bestimme die Bedeutung, die der Patient seinem Leiden und seinen Genesungswünschen zuteile, entscheidend über die weitere medizinische Vorgehensweise mit. Zudem seien auch Autoren von Leitlinien befangen und es ist oftmals von ihrer subjektiven Einschätzung abhängig, welchen Grenzwert sie festlegen und welche Tests sie empfehlen.

Hartzband und Groopman beschließen ihren Text mit einem Appell. Wenn sie krank sind, wollen sie um ihrer selbst willen als Individuen entsprechend ihren Wertvorstellungen behandelt werden, nicht als zahlende Kunden.

Begriffe wie Markt und Mehrwert hätten in der Ökonomie ihren Platz, aber nicht im Krankenhaus. Ihr Aufruf ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie ihn als Harvard-Mediziner im wohl bedeutendsten medizinischen Fachblatt der Welt veröffentlicht haben. Ob sich der skizzierte Trend aufhalten oder gar umkehren lässt, ist zweifelhaft.

An diesem Donnerstag wird in München der 10. Europäische Gesundheitskongress eröffnet. Ein hervorgehobenes Motto der Tagung lautet: "Die neue Rolle des Patienten als Wirtschaftsfaktor".

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