Gesundheit im Netz: der Selbstsversuch:Sofort zum Arzt? - Mach dich locker

Mit Beschwerden auf Ratsuche im Netz - zwischen Trost, Mitgefühl, Beruhigung, Hysterie, Fehlalarm und falscher Sicherheit ist alles geboten. Doch welcher Ratschlag taugt etwas?

Werner Bartens

Zart besaitet darf man nicht sein. "Du bist ja mit 45 auch nicht mehr der Jüngste ;-)", schreibt Clarissa9, nachdem ich im Forum von Atemnot nach dem Joggen berichtet habe. Stefan 4587 gibt Entwarnung, vermutet eine "banale Ursache", nämlich mein Training mit "zu starker Belastung bei gleichzeitig nicht vorhandenem cooldown". Tascha erklärt hingegen kategorisch: "Brustschmerzen nach dem Laufen plus Atemnot sollte generell in der Regel immer (!) kardiologisch abgeklärt werden."

Der letzte Satz ist ein unmissverständlicher Befehl: "Anfang der Woche zum Arzt!"

Innerhalb weniger Stunden bekomme ich alles geboten: Trost, Mitgefühl, Beruhigung - bis hin zur Aufforderung, mich schleunigst untersuchen zu lassen. Doch welcher Ratschlag taugt etwas? Was ist falscher Alarm und was eine gefährliche Verharmlosung lebensbedrohlicher Beschwerden? Es ist spätabends, das Wochenende nah, ich bin allein. Bilde ich mir alles nur ein oder sollte ich doch den Ärztlichen Notdienst anrufen? Cool down hatte Stefan 4587 geraten, das gilt wohl nicht nur nach dem Joggen.

Recherchen zu Gesundheitsfragen sind einer der drei häufigsten Gründe für die Internetnutzung überhaupt. Fast fünf Prozent aller Suchanfragen im Netz haben etwas mit Medizinthemen zu tun. Längst hat der Arzt Konkurrenz vom Computer bekommen.

Sitzt ein Furz quer - oder ist es doch Krebs? Operieren lassen oder abwarten? Sofort in die Klinik oder ignorieren? Wer hartnäckig in seinen Körper hineinhorcht und auch sonst gerne mit sich beschäftigt ist, steht häufig vor solchen Fragen.

Vorbei die Zeiten, da Medizin im Netz nur bedeutete, dort verschämt Viagra zu bestellen. Fast ein Drittel der Bevölkerung hat schon online nach dem besten Spezialisten für das jeweilige Zipperlein oder einem Arzt in der Nähe gesucht oder gehofft, anonym und mit wenig Aufwand eine Ferndiagnose zu bekommen.

Der nächste Selbstversuch im Netz liefert wieder sofort Ergebnisse. Ich habe mich bei netdoktor.de eingeloggt, fünf Millionen Besuche hat die Website im Vormonat verzeichnet. Ich schildere "unregelmäßig Beschwerden im Bauch. Eher links, eher im unteren Bereich", frage nach Rat bei "oft drückenden, manchmal auch stechenden Schmerzen". Die erste Antwort ist wenig ermutigend: "Ohweia, ein ,unklarer Bauch'! Ist ein sehr weites Feld, es kann eine unendliche Vielzahl von Ursachen für deine Probleme geben." Das hatte ich schon befürchtet.

Leben in einer aufgeblähten Reizdarmrepublik

Meine Beschwerden werden auf der Forumsseite "Magen-Darm & Verdauung" einsortiert, am Rand blendet ein Banner ständig ein krampflösendes Mittel gegen Bauchschmerzen ein. Zudem erfahre ich, dass User Quasimodo1 nach 13 Jahren endlich von seiner Verstopfung befreit ist, aber auch gerne die Blähungen los wäre, die ihn immer noch plagen. Wer sich hier festliest, hat das Gefühl, in einer aufgeblähten Reizdarmrepublik zu leben.

Meine virtuellen Gesprächspartner gehen gründlich vor, fragen nach Alter, Ernährung und ob ich schon beim Arzt war. Nach der Antwort bekomme ich Kurzvorträge über ausgewogene Ernährung und eine Verdachtsdiagnose, die zwar stimmig ist, aber eine recht schwere Krankheit beschreibt. Als ich übertreibe ("Habe Angst, dass es was Schlimmes ist", "Onkel mit Magenkrebs"), lese ich zwar postwendend, dass "erst einmal kein Grund zu Beunruhigung" besteht, wie Emirates mir versichert.

Doch die Verdachtsdiagnose Divertikulose - Ausstülpungen im Darm, die sich entzünden können - klingt wenig aufbauend. Die weiteren Ausführungen von Emirates lassen mich ratlos zurück: "Ob dies für dich zutreffen könnte, lässt sich so gar nicht sagen, da müsste man den Darm schon genauer untersuchen." Ja, was denn nun? Seine Antwort ist zwar aus medizinischer Sicht sinnvoll, aber da kann ich ja gleich zum Arzt gehen.

Es ist ein Teufelszeug, eine Sucht, ich lese weiter, finde immer mehr Beschwerden, Symptome und Diagnosen, die für mich zutreffen könnten. Was, wenn es mir wirklich schlecht gehen würde? Könnte ich die Nacht ohne Besuch in der Notaufnahme überstehen?

Manche Ratschläge sind brutal nüchtern. Oliver befürchtet, eine Glasscherbe von 1,5 Zentimeter Größe verschluckt zu haben, doch Ruprecht gibt Entwarnung: "Das wäre dir sicher aufgefallen."

Das ist einfühlsamer als die Antwort, die Oliver angeblich vom Notdienst bekommen hat: "Da kann überhaupt nichts passieren, da Menschen auch Rasierklinken schlucken."

Etliche Frauen wollen wissen, ob sie schwanger werden können, wenn sie die Pille vergessen haben. Männer fragen, was gegen Kater hilft. Die entscheidende Frage wird von Balsamika77 gestellt: "Arzt oder Roboter besser?".

Die Antwort ist leicht. Ein Kranker kann sich nicht objektiv über sein Wohl und Wehe informieren, weil er subjektiv betroffen ist. Der mündige Patient ist ein schönes Ideal, wenn das Leiden fern ist. Nur der Arzt, der Patienten anfasst und mit ihnen redet, erkennt, ob eine sofortige Behandlung oder Cool down angeraten sind.

Man kann sich zwar mit Informationen wappnen - oft sind sie aber nur ein Schutzschild zur Abwehr von Ängsten. Immerhin kann das Netz nicht nur Hypochonder heranziehen, sondern dem allein Leidenden auch bieten, was Friedrich55 schreibt und jeder Arzt vermitteln sollte: "Ich verstehe gut, dass du dir Sorgen machst."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: