Depression mit Suizidversuch:"Es bleiben Narben"

" Es bleiben Narben"

"Es bleiben Narben"

(Foto: Collage Jessy Asmus/ SZ.de)

Eine junge Frau will sich mit dem Sprung aus dem Fenster das Leben nehmen. Sie überlebt schwer verletzt - und muss sich ihrer Krankheit stellen: der Depression.

Protokoll: Lars Langenau

"Am 11. März 2013 sprang ich aus dem Fenster. Ich war 33 Jahre alt, litt unter schweren Depressionen und wollte mein Leben beenden. Die gemeinsame Wohnung von meinem Freund und mir lag im dritten Stock eines Altbaus bei Hannover.

An das, was unmittelbar danach geschah, den Sprung selbst oder die Stunden davor, erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur, was mir hinterher erzählt wurde - und was ich Stück für Stück wissen wollte. Ein Nachbar fand mich im Hinterhof, rief den Notarzt und die Polizei.

Ich wurde mit dem Hubschrauber in die Klinik geflogen, kam auf die Intensivstation. Erste Diagnose: Zersplitterte Fußknochen, eine offene Oberschenkelfraktur, gebrochener vierter Lendenwirbel und das Brustbein drückte auf die Lunge, was eine Notoperation nötig machte. Zudem hatte ich viel Blut verloren und bekam Transfusionen.

Im Krankenhaus versetzten mich die Ärzte in ein zweiwöchiges Koma. Meine Erinnerungen daran sind wirr und bestehen vor allem aus komischen Träumen. Als ich aufwachte, wusste ich nicht, warum ich mich im Krankenhaus befand. Zu Verwandten sagte ich, dass es ja scheiße sei, wegen einem Bänderriss hier zu liegen. Nur, dass der einige Monate zurücklag. Als ich erfuhr, dass ich einen Suizidversuch unternommen hatte, war ich entsetzt.

Mein Freund erlitt einen Schock, als er die Nachricht von meinem Sprung bekam. Er hatte große Schwierigkeiten, unsere Wohnung zu betreten, geschweige denn das Zimmer, aus dessen Fenster ich sprang. Er suchte uns eine neue Wohnung auf dem Land.

Scham und Schuld

Vier Monate lag ich im Krankenhaus - drei davon konnte ich wegen meiner schweren Fußfrakturen nicht aufstehen. Zwölfmal wurde ich operiert. Kurz nach der Einlieferung war nicht klar, ob ich querschnittsgelähmt bin. Aus Erzählungen weiß ich, dass die erste Nacht kritisch war, dass meine Mutter und mein Bruder nur wollten, dass ich am Leben bleibe, egal wie. Mein Vater meinte wohl, wenn ich wirklich gehen will, dann müsse er mich loslassen.

Die Ärzte konnten sich nicht vorstellen, dass ich je wieder auf diesen zerbröselten Füßen stehen könne. Es war, als sei eine Tasse aus größerer Höhe gefallen - und in viele kleine Einzelteile zerbrochen.

Ich konnte nicht allein aufs Klo gehen, wurde von Fremden gewaschen - oder machte nachts, nachdem der Katheter entfernt wurde, ins Bett. Erst ein Rollstuhl erleichterte dieses Leben. Doch die Bedienung war ein absoluter Kraftakt, Stück für Stück habe ich es dann hingekriegt.

Ich verbrachte unendlich lange Tage, starrte ins Leere, guckte manchmal Fernsehen, hatte wechselnde Zimmer, Stationen und Bettnachbarn. Manche waren nett, andere anstrengend, andere unauffällig, jung, alt - alles war dabei. In dieser Phase konnte ich mir nicht vorstellen, dass es je wieder bergauf gehen würde.

Meine Familie, Freunde und Bekannte unterstützten mich mit Zuspruch, Karten und Geschenken. Trotzdem ging das zu diesem Zeitpunkt ziemlich an mir vorbei. Ich konnte es nicht richtig wertschätzen. Dazu gesellte sich Scham, weil ich mich ja selbst in diesen Zustand gebracht hatte. Ich war der Überzeugung, dass ich all dieses Mitgefühl gar nicht verdient hätte. Viele hatten Verständnis für die Depression, die bereits zum dritten Mal aufgetreten war.

Die erste depressive Phase

Das erste Mal hatte ich kurz nach dem Abitur damit zu tun. Zu dieser Zeit ging eine On-off-Beziehung zu Ende, in der ich meine emotionalen Grenzen viele Male weit überschritten hatte. Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr: Konnte nicht mehr schlafen, hatte Herzrasen und Schweißausbrüche, war permanent auf 180, kam nicht mehr zur Ruhe.

Ich war ein Schatten meiner selbst und konnte nichts mehr für mich und andere tun oder Freude empfinden. Besonders schlimm war es, wenn ich meinen Freund traf, dann wurde mir schlecht und diese undefinierbare Panik unerträglich. Ich beschloss, mich zurückzuziehen, fühlte mich aber ohne ihn auch schrecklich.

Es war diese Situation, aus der ich keinen Ausweg fand, die mich zerrieb und Angst und Depression auslöste. Ich fühlte mich ihm gegenüber schuldig und wie der schlechteste Mensch auf Erden. Angst vor Verlust war schon immer ein Teil meines Lebens.

Zu diesem Zeitpunkt lernte ich meinen jetzigen Freund kennen und dachte, er könnte mir den Absprung aus der vorherigen Beziehung erleichtern. Nur: Das klappte zunächst gar nicht. Ich konnte keine Nähe mehr ertragen, sie machte mir Angst. Die Liebe und die Harmonie, die ich mir eigentlich gewünscht hatte, waren zu viel für mich. Ich war unnahbar, machte ständig Schluss und dachte, ich wäre niemals in der Lage, eine "normale" Beziehung zu führen.

Ich sah in ungeahnte Abgründe meiner selbst

Mit dem Gefühl der inneren Leere, der kompletten Sinnlosigkeit und der Überzeugung, dass es nie wieder anders werden würde, fing ich trotzdem an zu studieren. Erst nach mehr als einem Jahr veränderten sich meine emotionale Lage und der körperliche Ausnahmezustand. Zurück blieben die Angst vor diesen merkwürdigen Gefühlen und undefinierbaren körperlichen Symptomen. Ich war nicht mehr so unbescholten wie davor und hatte in ungeahnte Abgründe meiner selbst gesehen.

Auf der anderen Seite kann man sich, wenn die Depression vorbei ist, auch nicht mehr vorstellen, wie sie wirklich war. Fünf Jahre ging dann alles so weit gut. Ich studierte, hatte Höhen und Tiefen wie andere wohl auch, hatte eine stabile Beziehung, verschiedene Jobs nebenher - ein normales Leben.

Heikel wurde es dann wieder, als ich meinen ersten Vollzeitjob antrat. Ich wusste zwar schon vorher, dass die Arbeit nicht meinen Vorstellungen entsprach, nahm sie aber erst mal euphorisch an. Doch nach kurzer Zeit entwickelten sich wieder Stresssymptome, wie ich sie vom ersten Mal her kannte. Im Job wurde ich zwischen verschiedenen Ansprüchen zerrieben, mehrere Kollegen kündigten. Bald war es auch für mich zu viel, es war ein Gefühl, als würde ich permanent unbequeme Schuhe tragen müssen.

Monatelang konnte ich nicht vernünftig schlafen, schleppte mich Tag für Tag zur Arbeit. Jedes Mal, wenn ich dort über die Schwelle trat, hoffte ich, dass ich einfach zusammenbrechen würde und das Ganze vorbei wäre. Auf die Idee zu kündigen, kam ich nicht. Ständig war da der Gedanke, dass ich dankbar dafür sein müsste, eine Arbeit zu haben und ich wollte mein Umfeld nicht enttäuschen.

Herzrasen, Panikattacken

Nach acht Monaten hatte ich zwei Wochen Urlaub. Ich war unendlich erschöpft, trotzdem hypernervös, sah wieder keinen Lösungsweg. Auf Paxos war es erst schön, doch nach drei Tagen brach es extrem aus mir heraus. Die Schönheit der griechischen Insel kam mir wie eine Kulisse vor, die mir eine Idylle vorgaukelte, die es in meinem Leben nicht gab.

Ich bekam Herzrasen, Panikattacken, heulte ständig. Mein Freund und ich gingen im Paradies durch die Hölle und mir wurde klar, dass ich zu meinem Job nicht zurückkehren konnte. Erst war der Entschluss eine Erleichterung, aber dann wurde alles wieder nur noch schlimmer. Wieder war das Schuldgefühl vorherrschend, es nicht geschafft zu haben, die letzte Versagerin zu sein, niemals im Arbeitsleben klarzukommen, Leere, Emotionslosigkeit, keine Freude.

Ziemlich schnell bekam ich ein neues Jobangebot, hielt jedoch die erste Woche nicht durch. Ich bekam Heulanfälle bei jeder kleinen Anforderung, konnte die leichtesten Dinge nicht mehr. Ich ließ mich in eine psychiatrische Klinik einweisen, auch weil da schon Suizidgedanken im Spiel waren. Dort blieb ich und bekam Medikamente. Doch als ich aus der Klinik kam, ging es mir schlechter als zuvor: Ich hatte ein neues Medikament bekommen, auf das ich mit einem Tremor reagierte. Keine Minute konnte ich stillsitzen und war völlig neben der Spur.

Ich kam dann in eine andere Klinik mit einer viel besseren Betreuung. Die Medikamente wurden umgestellt, mein Zustand besserte sich minimal und nach zwei Monaten wurde ich entlassen. Doch weiterhin dominierten Leere und Hoffnungslosigkeit meinen Alltag. Irgendwann begann ich mit diesen Gefühlen wieder zu arbeiten. Zunächst wie ein Roboter. Nach langer Zeit erst empfand ich wieder Freude, verfolgte Interessen und schmiedete Pläne. Die Leidenschaft zum Leben kehrte zurück.

Eine schwierige Dreiecksbeziehung

Ich begann eine Verhaltenstherapie und obwohl sowohl berufliche als auch private Umstände nicht immer leicht waren, blieb ich stabil. 2008 verliebte ich mich in einen anderen Mann. Zu Hause führte das mit meinem Freund zu sehr emotionalen Auseinandersetzungen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir zehn Jahre zusammen. Erst mal führten wir eine Dreiecksbeziehung, im Einverständnis.

Irgendwann wurde mir das jedoch zu viel und ich entschied mich zunächst für den anderen Mann. Mit meinem "Ex"-Freund teilte ich weiterhin die Wohnung, wir konnten es uns beide nicht anders vorstellen. Vielleicht log ich mir dabei aber auch, was eine Trennung anging, in die eigene Tasche, weil ich keinen klaren Schnitt vollzog. Die andere Beziehung entwickelte sich jedoch nicht in die Richtung, die ich mir wünschte. 2012 brach der Kontakt ab.

Vor zwei Jahren wagte ich in meinem Job einen Neuanfang und machte mich selbständig. Allerdings merkte ich, dass mich auch da Selbstzweifel und mangelndes Selbstvertrauen verfolgten. Es zerplatzte eine von mir imaginierte Zukunftsblase. Dann kam eins zum anderen, Hartz IV stand bevor, ich hatte keinen Job in Aussicht, wusste auch nicht mehr, was ich wollte, hatte keine Visionen und auch keine Lust mehr zu irgendwas. Panikattacken, Leere, emotionale Entfremdung standen auf der Tagesordnung.

Die Abwärtsspirale setzte sich wieder in Gang. Ich ließ mich erneut in eine psychiatrische Klinik einweisen, blieb da aber nicht lange, weil ich mich nicht wohl fühlte und keine Besserung verspürte. Die Medikamente halfen nicht, es waren wohl nicht die richtigen. Ich ging noch in eine Tagesklinik - und dann kam der 11. März 2013.

Ich war in Behandlung, aber scheinbar nicht in der richtigen. Niemand konnte ahnen, dass ich aus dem Fenster springen würde.

Die Zeit danach habe ich fast nur in Krankenhäusern und mit Rehamaßnahmen verbracht. Langsam lernte ich das Gehen wieder. Doch ich weinte oft und war hoffnungslos.

Mir wurde klar, dass ich meine Depressionen noch immer mit mir rumschleppte. Im Dezember 2014 ließ ich mich abermals in die Psychiatrie einweisen, da wieder suizidale Gedanken aufkamen. Doch erst in einer psychotherapeutischen Rehaklinik hatte ich einen Ort gefunden, an dem es mir gelang, mich mit meinen wirklichen Problemen auseinanderzusetzen.

Als ich nach Hause kam, machte ich zunächst die gemeinsame Wohnung zu meiner: Ich dekorierte um, mistete aus und ordnete. Ich hatte wieder Lust, Dinge zu unternehmen. Überhaupt hatte ich den Eindruck, jetzt erst therapiefähig geworden zu sein.

Was jetzt noch bleibt, sind die Narben, die teilweise sehr hässlich sind und Schwierigkeiten bei bestimmten Bewegungen. Und die Frage, was ich Leuten erzähle, die mich fragen, warum ich nicht ganz normal laufen kann, woher diese oder jene Narbe kommt, warum ich für ein Jahr zwangsverrentet worden bin.

Weitere Fragen geistern mir durch den Kopf: Werde ich wieder mein eigenes Geld verdienen? Werde ich mir selbst vergeben können? Aber was ich auf jeden Fall weiß: Ich habe ins Leben und auch zu dessen Schönheit zurückgefunden - auch wenn dann und wann mal ein blöder Gedanke kommt.

Ach ja, und ich feiere jetzt immer am 11. März meinen zweiten Geburtstag."

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Carolin R., 35, wohnt in der Nähe von Hannover.

Überleben

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