Vergesslichkeit in der Schwangerschaft:Was ist dran am "Baby Brain"?

Mythos oder Realität? Schwangere sollen zerstreut und vergesslich sein. Sogar Ratgeber warnen vor dem "Baby Brain". Was dran ist an dieser Vorstellung, zeigt eine neue Studie.

Von Werner Bartens

Es gibt Lebensumstände, in denen Menschen nur sehr eingeschränkte geistige Fähigkeiten zugebilligt werden. Akute Verliebtheit gehört dazu - Mediziner bewerten diesen mentalen Zustand als ähnlich konfus wie eine mittelschwere Psychose.

Schwangerschaft, Vergesslichkeit, iStock

Mythos "Baby brain": Auch mit Babybauch können Frauen gut denken.

(Foto: Foto: iStock)

Resultiert aus der Verliebtheit eine Schwangerschaft, sind viele Ärzte und auch Laien davon überzeugt, dass wichtige kognitive Funktionen ebenfalls erheblich beeinträchtigt sind. Schwangere gelten nicht nur als stimmungslabil, sondern auch als zerstreut und vergesslich - manche Partner würden sogar sagen: als nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Im Englischen gibt es sogar die Bezeichnungen Baby brain und Placenta brain für diese Phase.

Psychologen um Helen Christensen entlarven nun die Behauptung von den vergesslichen Schwangeren als Mythos. "Frauen und ihre Partner sollten diese Attribute nicht für selbstverständlich halten", sagt die australische Wissenschaftlerin.

Im Fachblatt British Journal of Psychiatry (Bd.196, S.126, 2010) zeigen die Psychologen, dass Frauen während der Schwangerschaft auch nicht mehr Gedächtnisausfälle und Konzentrationsschwächen aufweisen als in den Jahren zuvor oder in der Zeit nach der Geburt.

Das hartnäckige Vorurteil beruht womöglich auf methodischen Schwächen früherer Studien. Die meisten Untersuchungen, die den passageren Gedächtnisverlust von Frauen zu bestätigen schienen, hatten nur die Schwangerschaft im Blick.

Christensen und ihr Team von der Universität Canberra untersuchten hingegen mehr als 1200 junge Frauen über einen mehrjährigen Zeitraum und erfassten die kognitiven Leistungen in der Zeit vor, während und nach der ersten Schwangerschaft. Sie konnten dabei keine Unterschiede in Gedächtnistests und Konzentrationsübungen feststellen.

Veränderter Blickwinkel

Teamleiterin Christensen gibt der betulichen Beratungsliteratur für Schwangere eine Mitschuld an dem Vorurteil. "Diese Bücher vermitteln Frauen beharrlich, dass sie in den kommenden neun Monaten wahrscheinlich an Gedächtnis- und Konzentrationsproblemen leiden werden", sagt die Wissenschaftlerin. "Sobald der Bauch rund wird, warten die Schwangere und ihr Partner auf erste Anzeichen der Vergesslichkeit."

Den australischen Wissenschaftlern zufolge ändern Frauen während der Schwangerschaft lediglich ihren Blickwinkel. "Ihre Aufmerksamkeit richtet sich vom Beruf weg auf die Geburtsvorbereitung und die Zeit danach - das kann man kaum als ein 'kognitives Defizit' bezeichnen", sagt Christensen. Zudem sind viele Frauen in der Schwangerschaft durch physische und emotionale Belastungen eher erschöpft.

"Alle wissen, dass die Konzentration schon mal nachlassen kann, wenn wir müde sind", sagt Cathy Warwick von der britischen Hebammenschule am Royal College. "Deswegen geben wir auch den Rat, dass Schwangere sich die Zeit und Ruhe nehmen, die sie brauchen."

Auch Tierstudien widerlegen das Vorurteil von den vergesslichen Schwangeren. Von Ratten ist bekannt, dass sie ihre geistigen Leistungen sogar noch steigern können, wenn sie trächtig sind. Ihr Gedächtnis funktioniert dann besser. Sie lernen schneller räumlich und schneiden bei Suchtests erfolgreicher ab.

Diese Fähigkeiten behalten sie auch noch während der Aufzucht ihrer Jungen bei. Womöglich zeigen langfristige Untersuchungen an Frauen demnächst, dass sie erst durch die Schwangerschaft zu geistigen Höchstleistungen getrieben werden.

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