Cholesterinsenker:Kehrtwende in der Fettecke

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Man muss sich nicht jedes Sahnehäubchen verbieten - vor allem alte Menschen profitieren offenbar vom Cholesterin

(Foto: Getty Images)

Jahrzehntelang war Cholesterin der Schurke schlechthin. Nun empfehlen Kardiologen nicht mehr, die Blutfette so drastisch wie möglich zu senken. Der Streit lässt nicht lange auf sich warten. Wer profitiert tatsächlich von Cholesterinsenkern und werden künftig womöglich noch mehr Menschen unnötig behandelt?

Von Werner Bartens

Die Achse des Bösen wird in der Medizin von einem klar definierten Oberschurken angeführt. Für Ärzte wie für Laien kommt die Bedrohung eindeutig aus der Fettecke: Cholesterin ist das Nordkorea unter den körpereigenen Molekülen. Strömt es im Übermaß durch die Blutbahn, kleistert es Arterien zu und verstopft Herzkranzgefäße und Hirnschlagadern, bis die Opfer in jungen Jahren vom Infarkt oder Schlaganfall dahingerafft werden.

Kein Wunder, dass Mediziner jahrzehntelang danach trachteten, die Cholesterinwerte immer drastischer zu senken. Besonders das im Volksmund als "böses Cholesterin" bezeichnete LDL (das Kürzel steht für Low Density Lipoprotein) hatte es ihnen angetan. Je niedriger der Wert dieses Blutfettes, desto besser.

Mit dieser Rosskur ist nun Schluss. Die amerikanischen Herzexperten haben Mitte November einen überraschend radikalen Wandel vollzogen und lockern ihre Empfehlungen, wer von einer Therapie mit Statinen profitiert. Im Fachblatt Circulation (online) kommt eine Arbeitsgruppe der beiden größten Kardiologenverbände der USA zu dem Ergebnis, dass die ebenso populären wie umsatzstarken Fettsenker nicht mehr jedem Wohlstandsbauch mit mäßig erhöhten Cholesterinwerten gleichsam im Schrotschussverfahren verordnet werden sollten.

Eindeutig profitieren demnach noch vier Patientengruppen von einer Therapie mit Cholesterinsenkern:

1) Menschen, die bereits einen Infarkt hinter sich haben, oder deren Beschwerden auf andere Herz-Kreislauf-Leiden hinweisen

2) Menschen, deren Menge an LDL-Cholesterin im Blut 190 Milligramm pro Deziliter übersteigt, was hauptsächlich bei familiären Fettstoffwechselstörungen vorkommt;

3) Diabetiker im Alter zwischen 40 und 75 Jahren, bei denen der LDL-Cholesterinwert zwischen 70 und 189 Milligramm pro Deziliter liegt

4) Menschen im Alter zwischen 40 und 75 Jahren, deren LDL-Cholesterin zwar unter 190 Milligramm pro Deziliter liegt, die aber ein um 7,5 Prozent oder noch stärker erhöhtes Risiko aufweisen, in den kommenden zehn Jahren einen Infarkt oder Schlaganfall zu erleiden.

Jahrelang wurden die Grenzwerte immer weiter gesenkt

Über die Neuausrichtung und den Mut, der sich hinter diesen nüchternen Zahlen verbirgt, scheinen die Autoren der Empfehlungen selbst erstaunt zu sein. "Uns ist klar, dass diese Richtlinien eine ziemliche Veränderung gegenüber früheren Empfehlungen darstellen", schreiben die Experten, nachdem sie fünf Jahre lang die Fachliteratur durchforstet haben. "Aber als Arzt kann man sich an Veränderungen gewöhnen, wenn die Veränderungen durch erdrückende Beweise begründet sind."

Die Zeit sei einfach vorbei, auf bestimmte LDL-Zielwerte hinzutherapieren und diese immer niedriger anzusetzen. Auch im Cholesteringewerbe hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass viel nicht immer viel hilft.

In der Tat konnte man in den vergangenen 50 Jahren den Eindruck gewinnen, dass der empfohlene Grenzwert für Cholesterin mit jedem Jahrzehnt automatisch weiter abgesenkt wurde. Von 260 über 240 und 220 bis auf 200 Milligramm pro Deziliter verringerten die Fachgremien den Zielwert im Blut, der angeblich Herz und Gefäße schonte.

Im Jahre 2005 empfahl die Europäische Kardiologenvereinigung sogar einen Wunschgrenzwert von 193 Milligramm pro Deziliter, was allerdings auch unter Ärzten erhebliche Proteste auslöste, da auf diese Weise drei Viertel aller Erwachsenen krankgeredet und für potenziell therapiebedürftig erklärt würden.

Ende der "Cholesterinkosmetik"

"Es ist gut, dass nicht mehr so pauschal behandelt werden soll", sagt Christian Hamm, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. "Manche Patienten haben die Statine ja nur bekommen, um Cholesterinkosmetik zu betreiben und den Laborwert zu schönen, das sollte jetzt endgültig vorbei sein."

Im Übrigen ist Hamm der Meinung, dass die Statine "zu den segensreichsten Medikamenten überhaupt" gehören, mit denen schon Hunderttausende gerettet worden sind. Außerdem hätten die europäischen Kardiologen die Kehrtwende in der Behandlung längst vollzogen, die von den Amerikanern jetzt mit großem Brimborium verkündet wird.

"Die Erkenntnisse über die beste Behandlung sind aber nur ziemlich mühsam in der Praxis angekommen", beklagt Hamm. "In Deutschland sind die Vorbehalte gegen Medikamente generell groß - besonders gegenüber Fettsenkern. Und das hat nach dem Lipobay-Skandal noch zugenommen." Deshalb seien etliche Patienten gar nicht oder nur unterdosiert behandelt worden, die von Statinen hätten profitieren können, vermutet Hamm. Andererseits hätten aber auch viel zu viele Patienten die Mittel bekommen, obwohl dies medizinisch gar nicht nötig gewesen wäre.

Aus den einschlägigen Statistiken geht hervor, dass fast fünf Millionen Menschen in Deutschland Statine einnehmen. Aber nur bei etwa zwei Millionen dieser Patienten ist das medizinisch schlüssig zu begründen - etwa nach einem Infarkt oder bei Diabetikern mit entgleisten Blutfetten. Der trotzdem therapierte große Rest umfasst eine diffuse Gruppe von Menschen, die ein bisschen zu dick und ein bisschen zu bewegungsfaul sind und die ein bisschen erhöhte Cholesterinspiegel aufweisen.

Diese undifferenzierte Verschreibungslust führt dazu, dass sich gleich mehrere Fettsenker regelmäßig unter den Top Ten der Medikamentenbestseller wiederfinden. Das bekannteste Mittel Atorvastatin (die Handelsnamen sind Sortis oder Lipitor) war 2011 mit mehr als 12,2 Milliarden Dollar das umsatzstärkste Medikament weltweit.

"Wir wissen ja, wie manche Leitlinien gerade im Bereich der Fettstoffwechselstörungen entstanden sind", sagt Andreas van de Loo, Chef der Kardiologie am Hamburger Marienkrankenhaus, und spielt damit auf den starken Einfluss der Pharmaindustrie im Bereich der Lipidsenker und der damit befassten Ärztegremien an. "Jetzt haben sich offenbar auch die US-Kardiologen etwas beruhigt und betrachten nicht mehr nur sklavisch den Cholesterinwert."

Van de Loo erinnert sich an etliche Patienten, die mit einer als Rhabdomyolyse bezeichneten schweren Muskelschädigung und Nierenversagen zu ihm in Lebensgefahr in die Klinik kamen: "Viele haben die Medikamente gar nicht nötig gehabt, da wurden Menschen mit geringem Risiko therapiert - mit teilweise starken Nebenwirkungen." Der Kardiologe begrüßt es, dass endlich mehr auf die Lebensbedingungen der Patienten und die klinischen Untersuchungsergebnisse als auf den Laborwert geschaut wird und nicht mehr Statine mit der Gießkanne verteilt werden.

Wird das Erkrankungsrisiko systematisch falsch berechnet?

Für Ärzte wird es allerdings nicht leicht, zu ermessen, wer in die viertgenannte Gruppe gehört, die von der Behandlung profitiert, weil ihr um 7,5 Prozent erhöhtes Risiko gesenkt wird. Europäische wie amerikanische Kardiologen haben Mehrfeldertafeln entworfen, um den Grad der Gefährdung zu bestimmen. Ob damit zuverlässig die Risiken für Herz und Kreislauf erfasst werden, darum ist schon ein Streit entbrannt. Alter, Geschlecht und Blutdruck spielen eine Rolle. Erhöhte Cholesterinwerte gehen zwar auch in die Auswertung ein, befeuern das Risiko aber nicht so sehr wie Rauchen oder Diabetes.

"Statt weiter umständlich die Werte einzutragen und den Score zu ermitteln, müsste es eine App geben, mit der man das Risiko einfach bestimmen kann", fordert Kardiologenpräsident Hamm. Die Harvard-Mediziner Paul Ridker und Nancy Cook kritisieren allerdings, dass auch mit den neuen Empfehlungen noch viel zu viele Menschen unnötigerweise therapiert würden (Lancet, online). Allein in den USA wären 33 Millionen Menschen davon betroffen.

Schuld sei ein falscher Algorithmus auf den Mehrfeldertafeln, die einem Mann, dessen Zehnjahres-Risiko bei vier Prozent liege, ein Risiko von acht Prozent bescheinigen würde, was zwangsläufig eine Therapieempfehlung nach sich zieht. "Fehlberechnungen in diesem Ausmaß sollten behoben werden, bevor das Modell eingeführt wird", fordern Ridker und Cook.

Die Harvard-Ärzte hatten das Risiko von Tausenden Patienten aus eigenen Untersuchungen, deren Eigenheiten sie zu Beginn der Studien kannten und von denen sie wussten, wer einen Infarkt oder Schlaganfall bekam, gemäß den neuen Empfehlungen berechnet und waren zu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen. Hat sich insgeheim doch die Industrie-Lobby durchgesetzt, weil trotz der Lockerung der Grenzwerte künftig mehr Menschen mit Statinen behandelt werden als zuvor, wie ein Kommentar der Lancet-Herausgeber nahelegt (Bd. 382, S. 1680, 2013)?

Eine weitere Gruppe Menschen soll immerhin künftig von Statinen verschont bleiben. Senioren jenseits der 75 sind durch erhöhte Werte des Blutfettes nicht gefährdet, sondern profitieren offenbar sogar davon - Cholesterin ist eben nicht nur böse, sondern auch unerlässlich für Reparaturvorgänge im Körper. Kein Grund also, Oma und Opa die Sahne auf dem Kuchen zu verbieten oder sie auf Diät zu setzen.

Mit einer bewegten Lebensführung lassen sich ebenfalls bessere Wirkungen erzielen als es die meisten Medikamente vermögen. "Dreimal die Woche Ausdauersport für 30 bis 45 Minuten verbessert die Herzgesundheit entscheidend", sagt Andreas van de Loo. "Da geht es um Walken, Joggen, Schwimmen, Tennis, Rudern oder Radfahren." Gymnastik und Gewichte stemmen im Fitness-Studio ist aus Sicht des Kardiologen hingegen nicht geeignet. "Alles, was schön und stark macht, bringt wenig für Herz und Kreislauf."

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