Psychiatrie:Borderline: Leben in Extremen

Borderline-Störung

Borderline-Patienten schwanken häufig zwischen Idealisierung und Entwertung anderer Menschen.

(Foto: Illustration: Sead Mujic)

Instabile Beziehungen, Wutausbrüche, Selbstverletzungen: Borderline-Patienten galten lange als nicht behandelbar. Heute können ihnen neue Psychotherapien helfen.

Von Christian Weber

Sie war ein Einzelkind mit einer alleinerziehenden, kalten, häufig depressiven Mutter. Als Vierjährige wurde das Mädchen, das hier Eva heißen soll, von einem Partner der Mutter über mehrere Monate sexuell missbraucht. In der Pubertät erlebt sie schwere depressive Verstimmungen, leidet unter Beziehungskrisen, Wutausbrüchen - sie fängt an, sich selbst zu verletzen. "Einmal wird Eva, wie eine Mumie in Verbände eingewickelt, von der chirurgischen Klinik zu uns verlegt, nachdem sie sich am ganzen Körper tiefe Schnitte zugefügt hat", berichtet Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor des kbo-Heckscher-Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in München. Immer wieder Aufenthalte auf der geschützten Station. Dann der dramatische Höhepunkt: "ein Suizidversuch durch Ertränken in einem gefährlichen, eiskalten Bachlauf." Die Diagnose fällt den Ärzten relativ leicht: Borderline-Störung.

Es ist ein Fall wie aus dem Lehrbuch, so wie ihn die Ärzte des Heckscher-Klinikums immer wieder erleben. Für manchen vielleicht überraschend ist aber der Ausgang der Geschichte: Heute ist Eva 25 Jahre alt, sie hat den Qualifizierenden Hauptschulabschluss geschafft, eine Friseurlehre absolviert und ist seit Jahren mit dem gleichen Freund liiert. Immer noch ist sie in lockerer, ambulanter psychiatrischer Behandlung, aber einen Suizidversuch hat sie nie wieder unternommen. Sie ist psychisch ausreichend stabil, um ein normales Leben zu führen.

Das ist die optimistische Botschaft, die die Experten des SZ-Gesundheitsforums in den Hörsaal der Psychiatrischen Universitätsklink in der Nussbaumstraße mitbrachten. "Es gibt inzwischen erprobte Konzepte bei der Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung, im Idealfall gelingt es, selbst schwer belastete Patienten zurück über die Grenze zu führen", versichert Freisleder. "Wenn früher jemand mit Schnitten an den Armen eingeliefert wurde, dachte man an Schizophrenie", erinnert sich auch Klinikdirektor Peter Falkai, der Moderator der Veranstaltung. "Und als man dann das Borderline-Konzept kannte, galten die Betroffenen als nicht behandelbar. Wir leben heute in einer ganz anderen Welt."

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Öffentlichkeit immer noch weniger bekannt als andere psychische Erkrankungen - obwohl sie mit einer geschätzten Lebenszeitprävalenz von bis zu fünf Prozent deutlich häufiger auftritt als etwa die Schizophrenie und vermutlich Männer und Frauen gleichermaßen trifft. Vielleicht liegt das auch an den "etwas unscharf geprägten Symptombildungen", wie es Freisleder formuliert. Im Zentrum stehen dabei gar nicht die typischen Selbstverletzungen, die blutenden Unterarme, sondern die "Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, in den Stimmungen, im Selbstbild und einer ausgeprägten Impulsivität." Die Handlungen und Wutausbrüche eines Borderliners kommen für andere Menschen häufig vollkommen überraschend und nicht nachvollziehbar. Sie beruhen auf deren extremen Fehleinschätzungen von sozialen Situationen.

Symptome der Borderline-Störung

Die Störung ist geprägt durch ein tief greifendes Muster von Instabilität in den zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie deutliche Impulsivität. Der Beginn liegt oft im frühen Erwachsenenalter oder in der Pubertät. Für die Diagnose müssen mindestens fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein:

Starkes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.

Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.

Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.

Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (zum Beispiel Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren).

Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.

Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).

Chronische Gefühle von Leere.

Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (zum Beispiel häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).

Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.

Missbrauch in der Kindheit

Dabei ist es ein erlerntes Verhalten, nur dass die Betroffenen in frühen Entwicklungs- und Übergangsphasen das Pech hatten, im falschen Umfeld aufzuwachsen. Zwar gehen Forscher mittlerweile davon aus, dass es auch eine genetische Veranlagung für die Borderline-Störung gibt, die mit zu den dysfunktionalen neurobiologischen Reifungsprozessen im Gehirn führt. Auch können womöglich traumatische Erfahrungen in der Schwangerschaft oder während der Pubertät - etwa der Verlust eines geliebten Elternteils oder massives Mobbing - die Störung begünstigen. "Doch eine wichtige Ursache ist zweifellos Missbrauch in der Kindheit", sagt Andrea Jobst von der Psychiatrischen Klinik der Universität München. Nicht alle, aber wahrscheinlich doch die meisten der Borderliner, hätten in der frühen Kindheit, also im Alter unter drei Jahren, böse Erfahrungen mit Eltern oder anderen engen Bezugspersonen gemacht.

"Dabei gibt es nicht nur das eine Borderlinetrauma", betont Jobst. Und unter Missbrauch dürfe man nicht nur sexuelle Grenzverletzungen verstehen. Genauso verheerend könnte sich auch körperliche Gewalt auswirken und - nicht zuletzt - andauernder emotionaler Missbrauch, "etwa durch Liebesentzug, Einsperren, Schweigen, mangelnde Fürsorge, wenige Umarmungen". Ein solches "invalidierendes Umfeld" wirke sich auf die Ich-Struktur und Persönlichkeitsentwicklung aus.

"Das Kind erfährt keine sichere Bindung, es lernt nicht richtig, seine Emotionen zu regulieren", erläutert Jobst. "In der Folge entwickelt es ein Schwarz-Weiß-Denken gegenüber anderen Menschen." Mal werde eine Person übermäßig idealisiert, dann plötzlich wieder dramatisch abgewertet. Dabei hat das wenig mit dem Gegenüber und dessem Verhalten zu tun. Und im Grunde fürchtet ein Borderliner nichts mehr, als verlassen zu werden:"Ich hasse Dich, verlass mich nicht" heißt treffend der Titel eines klassischen Ratgebers zum Thema.

So wundert es nicht, dass Borderliner sich sehr häufig schwer mit Beziehungen tun. Ihre Freunde und insbesondere Partner müssen bereit sein, die extremen Stimmungsschwankungen und Wutausbrüche zu ertragen, ohne dabei selber unterzugehen. Doch wenn es ihnen gelingt, eine einfühlsame und verlässliche Bezugsperson zu sein, können sie auch eine heilsame Wirkung entfalten. Psychotherapeuten sprechen von "Reparenting" (auf Deutsch: Nachbeelterung), das - so Jobst - "eine Nachreifung ermöglicht".

Allerdings sollten sich die Angehörige auch nicht überschätzen und versuchen, den Therapeuten ersetzen. Dazu steht zu viel auf dem Spiel. So berichten etwa 80 Prozent der Borderliner über Suizidversuche, geschätzte acht Prozent begehen tatsächlich Suizid. Viele leiden unter weiteren Störungen, vor allem Angst, sozialen Phobien und posttraumatischen Belastungsstörungen, die manchmal auch mit Medikamenten behandelt werden müssen. "Dabei hilft spezifische Psychotherapie sehr gut, etwa bei 60 Prozent der Patienten", berichtet Sabine Herpertz, Direktorin der Psychiatrie der Universität Heidelberg.

Die Experten des Gesundheitsforums

Professor Dr. Peter Falkai, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU), München Professor Dr. Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor des kbo-Heckscher-Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, München Professorin Dr. Sabine Herpertz, Ärztliche Direktorin der Klinik für Allgemeine Psychiatrie, Universität Heidelberg Oberärztin Dr. Andrea Jobst, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU Oberarzt Dr. Richard Musil, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU

Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, so Herpertz, sei eine genaue Analyse der Ausgangslage des Patienten, schon um die Prioritäten zu setzen. Erst müsse man eine mögliche Suizidalität angehen und sicherstellen, dass die Therapie nicht gefährdet wird. Verbreitet sind Verträge zwischen Therapeut und Patient. Erst dann werden die typischen Störungen des Verhaltens und Erlebens behandelt, zum Schluss Probleme der Lebensgestaltung. Das gelte für alle vier Behandlungskonzepte, die sich mittlerweile mit Wirkungsnachweisen etabliert haben, zwei psychodynamische (MBT: Mentalisierungs-gestütztes Behandlungskonzept und übertragungszentrierte Psychotherapie: TFP) und zwei eher verhaltenstherapeutische Ansätze (Schematherapie: SFT und Dialektisch -Behaviorale Therapie: DBT).

Nur jeder zehnte Patient erhält eine Psychotherapie

Egal welche Therapie gewählt wird, "ganz wichtig ist die therapeutische Beziehung", betont auch Sabine Herpertz. Im Idealfall sei der Therapeut nämlich eine Art Coach, der - typisch etwa für die Schematherapie - "dem Patienten korrektive emotionale Erfahrungen ermöglicht", mit denen er die unbewussten, eingefahrenen Schemata seiner Kindheit ändern kann. Letztlich gehe es in allen vier Ansätzen nämlich um die gleichen Probleme: Der Borderliner muss lernen, soziale Situationen korrekt wahrzunehmen und sein übererregtes Stresssystem unter Kontrolle zu bekommen. Hilfreich sei dabei die Mentalisierung, also die Fähigkeit, das eigene Verhalten und das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung psychischer Zustände richtig zu interpretieren. Herpertz spricht von "emotionalen Monitoring".

Noch wichtiger als die Wahl der Therapieform sei es, überhaupt in den Genuss einer Behandlung zu kommen - nur jeder zehnte Borderliner erhalte Psychotherapie, schätzt Herpertz. Insbesondere im ambulanten Bereich sei die Versorgungslage noch nicht ausreichend. Zwar bessere sich die Symptomatik mit zunehmenden Alter häufig von alleine, insbesondere die Zahl der Selbstverletzungen nimmt ab, "aber richtig gut geht es den Menschen nicht", sagt Herpertz.

Richard Musil von der Psychiatrischen Klinik der Universität München hielt ein Plädoyer für die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), die in den Neunziger Jahren in den USA von der Psychiaterin Marsha Linehan entwickelt wurde. Sie ist stark manualisiert, setzt also weniger auf die Kunstfertigkeit des individuellen Therapeuten und kann auch ambulant durchgeführt werden. Dabei zeichnet sie sich vor allem dadurch aus, dass sie verhaltenstherapeutische und sogenannte achtsamkeitsbasierte Methoden verbindet, die ursprünglich aus der buddhistischen Psychologie entlehnt wurden.

"Zum einen lernen die Patienten, dass sie Leid und Schmerzen auch annehmen müssen, zugleich werden sie gedrängt sich zu verändern", erläutert Musil. "Es geht also um den Ausgleich von Akzeptanz und Veränderung - das ist das Dialektischen an diesem Ansatz." Der Therapeut bringt dem Betroffenen Wohlwollen und Unterstützung entgegen, fordert aber auch die Einhaltung von Regeln. Daneben werden bestimmte, ganz konkrete Fähigkeiten - sogenannte Skills - vermittelt. Die Patienten lernen zum Beispiel, wie sie besser mit ihren Gefühlen und anderen Menschen umgehen, oder was für unblutige Alternativen es zum Ritzen gibt, wenn die innere Anspannung allzu groß wird: zum Beispiel in eine Chilischote zu beißen.

Immerhin ein bis zwei Jahre dauert eine ambulante DBT-Behandlung in der Regel mindestens, doch der Erfolg gibt ihr Recht. Sie gilt mittlerweile als jene Therapie, deren Wirksamkeit am besten durch kontrollierte Studien belegt ist. DBT hat in den letzten 20 Jahren die therapeutische Szene zum Umdenken gebracht. Und sie ist vielleicht auch der Grund, wieso der Oberarzt Richard Musil seine Präsentation mit einem kleinen Gag beenden kann. Er zeigt ein Bild von einer feschen Hexe, die auf einem Besen durch den Himmel reitet, dazu einen Spruch: "Was Du Borderlinestörung nennst, würde ich einfach als Leidenschaft bezeichnen."

Es war ein versöhnlicher Schluss, der in indirekter Weise auch von Peter Falkai, dem Münchener Klinikdirektor, bestätigt wurde. Er ging in seinem Vortrag dem Verdacht nach, dass Künstler und insbesondere Popstars besonders häufig von der Borderlinestörung betroffen seien. Typisch sei etwa der Fall von Amy Winehouse, die in ihrem Lebenslauf alle einschlägigen Symptome zeigte: Problematische Kindheit, Selbstverletzungen, Anorexie/Bulimie, Impulskontroll-Störung, Aggressionen, häufig wechselnde Beziehungen, Depressionen, Suchtprobleme mit Heroin, Kokain und Alkohol. Sie starb im Alter von 27 Jahren mit 4,13 Promille im Blut.

Sie reiht sich damit ein in den "Club 27" jener Stars von Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison bis Kurt Cobain, die alle ähnliche Probleme hatten und im gleichen Alter starben. Eine 2007 veröffentlichte Studie an 1064 Rock- und Popstars bestätigte, dass diese ein 240-fach erhöhtes Mortalitätsrisiko hatte. "Doch sie faszinieren eben auch mit ihrem Narzissmus und ihrer Energie, der authentischen Darstellung von Emotionen und der Art, wie sie stellvertretend für uns ihre Triebwünsche ausleben", sagt Falkai. "Wir sollten nicht vergessen, dass Borderliner auch Menschen mit ungewöhnlich positiven Eigenschaften sein können."

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