Binge-Eating-Störung:Exzesse am Kühlschrank

Mayor Bloomberg Attends Weigh In For Tomorrow's Coney Island Hot Dog Eating Contest

Überangebot an Nahrung: Beim International "Hot Dog Eating Contest" Anfang Juli in New York wird um die Wette gefressen. Bei manchen Menschen wird das allgegenwärtige Überangebot an Nahrung zum Problem.

(Foto: mario Tama/getty/AFP)

Essen bis zur Übelkeit: In den USA ist die Binge-Eating-Störung als eigenständige Diagnose anerkannt worden. Etablierung einer neuen Modekrankheit oder überfälliger Schritt?

Von Berit Uhlmann

Plötzlich fand sich der Versicherungsvertreter in einem Lebensmittelgeschäft wieder. Er trug schwer an Unmengen von Essen und doch fehlte ihm - so sein Arzt - "jegliche Erinnerung, wie er überhaupt dort hingekommen war". Kaum hatte der junge Mann seine Einkäufe verschlungen, setzte er zu einer "verstohlenen Runde durch die umliegenden Lokale an, wo er jeweils nur kurz blieb und, in beständiger Angst vor Entdeckung, lediglich kleine Mengen verzehrte". Bis zu 20.000 Kilokalorien kamen so an einem Tag zusammen. "Es bereitet mir nicht den geringsten Genuss", bekannte der Mann. "Es passiert einfach, und wenn es passiert, dann gibt es nur noch das Essen und mich - mutterseelenallein."

Bereits 1959 schilderte der amerikanische Psychiater Albert Stunkard das Leiden des 30-jährigen A. A., das heute als die erste Beschreibung einer Binge-Eating-Störung gilt. Was in dem Fall noch anekdotisch und ein wenig seltsam klingt, ist nun erstmals als eigene Krankheit anerkannt.

Als die US-Psychiater vor Kurzem die neue Ausgabe ihres Diagnosekatalogs DSM veröffentlichten, hoben sie die unkontrollierbaren Heißhungerattacken aus dem Sammelbecken der "nicht anderweitig spezifizierten Essstörungen" heraus und stellten sie auf eine Stufe mit Bulimie und Magersucht. In Deutschland gibt hingegen das Diagnosehandbuch der Weltgesundheitsorganisation vor, was als psychisch krank gilt. Das Binge Eating war bislang offiziell nicht dabei.

Völlerei als Krankheit?

Der US-Psychiater Allan Frances, prominenter Kritiker des neuen amerikanischen Diagnose-Handbuchs, hält die Aufwertung der Binge-Eating-Störung für eine der zehn schlimmsten Verfehlungen seiner Kollegen: Es genüge, innerhalb von drei Monaten nur zwölfmal exzessiv zu essen, um als psychisch krank zu gelten. Was also haben sich die Amerikaner da ausgedacht? Die seit Jahrhunderten bekannte Völlerei soll plötzlich eine Krankheit sein?

Tatsächlich ist orgiastisches Schlingen keine Entwicklung der Moderne. "Glaubt man historischen Quellen, gab es im Mittelalter heftige Fressgelage", sagt Hans-Christoph Friederich, Leiter der Arbeitsgruppe Essstörungen an der Klinik für Psychosomatik der Universität Heidelberg. Das Essen großer Mengen mag in früheren mageren Zeiten mitunter sogar sinnvoll gewesen sein. Neu ist jedoch, dass heute das Überangebot an Nahrung und der Mangel an Bewegung solche Essanfälle zum offenkundigen und weitreichenden Problem machen. Wer unkontrolliert isst, legt in der Regel deutlich an Gewicht zu und steigert sein Risiko für Gelenkprobleme, Bluthochdruck und Diabetes.

Dies ist kein theoretisches Problem: "Die Patienten sind da, auch in Deutschland", sagt Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Epidemiologischen Erhebungen zufolge leiden in den westlichen Ländern etwa zwei bis 3,5 Prozent aller Frauen und 0,3 bis zwei Prozent aller Männer einmal in ihrem Leben an den gehäuften Essanfällen. Für die deutschen Patienten gibt es offiziell nur die Diagnose "nicht näher bezeichnete Essstörung". Das reicht den Krankenkassen, nicht aber den Betroffenen. "Wir nennen das Leiden daher im Gespräch mit den Patienten längst Binge-Eating-Störung", so de Zwaan.

Vom Stigma Übergewicht

Die Spezialistin hält ebenso wie die meisten Fachleute die Störung für eine valide und eigenständige Krankheit. Nach den jetzt in den USA aufgestellten Kriterien leidet daran, wer über drei Monate lang mindestens einmal wöchentlich einen unkontrollierbaren Essanfall erlebt. Dabei verzehren die Patienten ungewöhnlich viel, ohne Hunger, hastig, allein, bis zur Übelkeit. "Wie ferngesteuert", beschreiben Betroffene in Internetforen das, was sie auch "das Stopfen" nennen. Anders als Bulimiker versuchen Binge-Eater nicht, die Zügellosigkeit durch Erbrechen oder Abführmittel-Missbrauch wieder rückgängig zu machen. Ihnen bleibt der Selbstekel, die Schuld und die Scham.

Der Kontrollverlust nagt an der Seele, vor allem führt er aber zu wachsenden Fettpolstern. Die Betroffenen leiden viel stärker am eigenen Körper als andere Übergewichtige. Friederichs Beobachtung nach ist nicht nur ein unrealistischer Schlankheitswahn dafür verantwortlich, sondern ebenso die Stigmatisierung, die mit dem Übergewicht einhergeht. "Dicke Menschen werden als undiszipliniert und weniger leistungsfähig wahrgenommen."

Dabei entspricht kaum einer seiner Patienten diesem Klischee. Der Arzt begegnet in der Praxis eher dem perfekt funktionierenden Manager auf Dienstreise, der am Abend in der Einsamkeit des Hotelzimmers Krawatte und Kontrolle abstreift, um sich dem ungezügelten Essen hinzugeben. Oder die Mutter, die wieder und wieder die eigenen Wünsche hinter die ihrer Kinder stellt, bis sie in ihrer kurzen freien Zeit die eigenen Bedürfnisse mit hemmungslosem Essen zu stillen sucht.

Was diese Menschen letztlich in Behandlung treibt, sind weniger die emotionalen Probleme, sondern in erster Linie ihr Übergewicht. In Gewichtsreduktionsprogrammen machen sie mittlerweile 20 Prozent aller Teilnehmer aus, so Christoph Friederich. Und spätestens an diesem Punkt zeigt sich, dass die eher geringe Beachtung der Störung Probleme bereitet. "Längst nicht alle Hausärzte, Ernährungsberater oder Leiter von Abnehmgruppen kennen die Kriterien der Störung", sagt Martina de Zwaan. Wird sie nicht diagnostiziert und behandelt, bleiben Übergewicht und seelische Not bestehen.

Wie das Stopfen gestoppt werden kann

Spezialisten behandeln die Betroffenen überwiegend mit einer kognitiven Verhaltenstherapie. Sie setzten vor allem darauf, Auslöser für die Essanfälle aufzuspüren und Alternativen aufzuzeigen. In der Mehrzahl der Fälle kann das Stopfen so gestoppt werden. "Doch die Patienten verlieren dadurch nur einige Kilogramm an Gewicht", erläutert die Medizinerin. Viele leiden weiter an ihrem Äußeren. Wie aber Gewichtsreduktion und Therapie verknüpft werden können, ist nicht nur unter praktischen Gesichtspunkten eine offene Frage. Es ist unklar, welches Vorgehen am besten hilft.

Neue Fragen stellen sich mit der Adipositas-Chirurgie. Binge-Eating-Patienten sind von Eingriffen wie dem Legen eines Magenbands nicht ausgeschlossen. Studien haben ergeben, dass die Verfahren für sie ebenso sicher sind wie für andere schwer Übergewichtige. "Doch wir haben beobachtet, dass der Kontrollverlust beim Essen auch nach der OP weiter bestehen kann", sagt de Zwaan.

Die Betroffenen essen zwar kleinere Mengen, diese aber weiterhin eilig, allein und gefolgt von Scham. Durch die Mengenbegrenzung fallen sie jedoch streng genommen aus den Kriterien für eine Binge-Eating-Störung heraus. Friederich ergänzt: Manche Patienten zeigen nach der OP ein anderes Suchtverhalten, sie konsumieren häufiger Alkohol, Zigaretten oder Drogen. Es entstehen neue Konstellationen, für die Erfahrungen fehlen. Denn, und in diesem Punkt kritisiert der Mediziner die aktuellen Diagnosekriterien, es wird derzeit kaum berücksichtigt, was der Störung zugrunde liegt.

Erwartungsdruck als möglicher Auslöser

In der Tat ist relativ wenig über die Ursachen der Essanfälle bekannt. Friederich geht davon aus, dass sehr häufig depressive Verstimmungen, etwa ein Gefühl der Leere, eine Rolle spielt. Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit Hang zu Perfektionismus, Impulsivität und negativen Emotionen gefährdeter sind. Hoher Erwartungsdruck im Elternhaus und von Gleichaltrigen scheinen ebenfalls das Erkrankungsrisiko zu erhöhen.

Wie groß der kulturelle Einfluss ist, bleibt unklar. Während die Magersucht in allen Teilen der Welt beobachtet wurde, beschränkt sich die Binge-Eating-Störung auf moderne Industriestaaten. Doch vielleicht ist die Erklärung dafür weniger in gesellschaftlich-kultureller Prägung zu suchen, sondern schlicht in dem Fakt, dass in ärmeren Regionen nicht genügend Nahrung vorhanden ist, die regelmäßige Essanfälle ermöglicht.

Nicht zuletzt wegen solcher ungeklärten Fragen sind Mediziner erleichtert, dass die Störung in dem einflussreichen amerikanischen Katalog anerkannt wurde. Sie hoffen auf leichteren Zugang zu spezifischen Therapien, mehr Forschung und Prävention. Die Anerkennung erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit, dass die Binge-Eating-Störung auch in die für 2015 erwartete Neuauflage des WHO-Diagnosekatalogs aufgenommen wird. Im Anhang des US-Pendants ist derweil schon eine neue Essstörung nachgerückt: das "Night-Eating -Syndrom", dessen Betroffene nachts nicht zur Ruhe kommen, weil es sie immer wieder zum Kühlschrank zieht. Wirklich neu ist auch diese Störung nicht. Sie wurde schon 1955 erstmals beschrieben - von Albert Stunkard, dem Vater des Binge Eatings.

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