Betablocker vor Operationen:Kunstfehlerskandal oder Panikmache?

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Eine Operation ist eine Belastung für den Körper. Ob Betablocker diese vergrößern oder verringern, ist derzeit unklar. (Foto: dpa)

Vor Operationen bekommen Patienten häufig Betablocker verarbreicht. Die Medikamente sollen den Körper schützen. Doch nun steht der Vorwurf im Raum, diese Praxis könnte 800.000 Tote in Europa gefordert haben.

Von Werner Bartens

Pol Pot ist ebenso dabei wie Idi Amin, weiterhin spielen ein Wissenschaftsfälscher und nicht zu vergessen Hunderttausende Tote eine wichtige Rolle. Im Hintergrund gibt es ein Netzwerk skrupelloser Kardiologen, die ihre Profitinteressen vor Patientenschutz stellen. Es ist so ziemlich alles geboten, was man von einem veritablen Medizinskandal erwarten kann. Die Reizwörter sind bereits früh gefallen. Ach ja, inzwischen ist auch noch von Zensur, Arroganz und groß angelegten Vertuschungsversuchen die Rede. Und natürlich davon, dass die Patienten in Europas Operationssälen ihres Lebens nicht mehr sicher sein können.

Dass der ganz große Aufschrei bisher ausgeblieben ist, hat sicher auch damit zu tun, dass die Lage ein wenig unübersichtlich ist. Angefangen - und das ist tatsächlich ein Skandal - hat es damit, dass der niederländische Kardiologe Don Poldermans der wissenschaftlichen Fälschung überführt wurde. Der zuvor äußerst angesehene Herzexperte von der Erasmus Universität in Rotterdam hatte gleich mehrere Studien gefälscht, schlampig ausgeführt oder auf das erforderliche Votum der Ethikkommissionen verzichtet. Als die Täuschungen aufflogen, wurde Poldermans von seiner Universität suspendiert. Das war im November 2011.

Das Ausmaß des Problems für Europas Kardiologen war schwer zu ermessen. Poldermans hatte schließlich mehrere Studien veröffentlicht, in denen die Gabe von Betablockern vor Operationen großzügig empfohlen wurde. Eine seiner Studien, die schon 1999 im angesehenen New England Journal of Medicine erschienen war, zeigte einen so deutlichen Überlebensvorteil für Patienten unter Betablockern, dass sie weltweit mehr als tausendfach zitiert und zum Maßstab für die präoperative Behandlung wurde.

Zwar gab es in der Folge noch einige Studien, in denen die Ergebnisse nicht so eindeutig ausfielen oder der Schaden den Nutzen überwog. Aber die Argumentation klang ziemlich nachvollziehbar: Bevor der Mensch durch einen Eingriff geschwächt und körperlich gestresst wird, sollten sein Herz und sein Blutdruck medikamentös leicht gedämpft werden. Zudem verringern die Pharmaka die körpereigene Stressreaktion auf Belastungen aller Art. Für den Organismus würde das eine Art Schonprogramm bedeuten, mit dem die Strapazen während einer Operation besser zu überstehen wären.

In den 1970er- und 1980er-Jahren waren Ärzte noch anderer Ansicht gewesen und plädierten mehrheitlich dafür, vor einer Operation lieber mit Betablockern zu pausieren. Schließlich können die Medikamente auch dazu beitragen, dass der erniedrigte Blutdruck, der bei vielen Operationen als Nebenwirkung auftritt, weiter sinkt und die Patienten in Gefahr bringt. Als Poldermans Tricksereien bekannt wurden, begannen etliche Kardiologen am inhaltlichen Wert seiner Studien zu zweifeln und erinnerten sich daran, dass die Betablockergabe immer auch von Zweifeln begleitet war.

Denn schon länger war unter Fachleuten bekannt, dass die Betablocker gefährliche Nebenwirkungen haben können. Bekamen Patienten die in manchen Untersuchungen empfohlene hohe Dosis, kam es in einigen Studien häufiger zu Komplikationen als ohne die Arzneimittel. "Wir können ja nicht jeden OP-Saal kontrollieren. Aber die hohe Dosis gibt sowieso schon lange keiner mehr", empört sich der Zürcher Kardiologe Thomas Lüscher, der etlichen Fachgremien der Herzmediziner vorsitzt. "Wir haben schon länger verstanden, dass Blutdruck und Herzfrequenz auch zu stark gesenkt werden können, sodass die Schäden überwiegen."

Die britischen Mediziner Graham Cole und Darrel Francis vom Imperial College in London rechneten nach. Sie wollten ermitteln, wie viele Patienten durch die Betablockergabe tatsächlich in Gefahr gerieten oder schon geraten sind. Zudem fürchteten sie späte Nachwirkungen des großen Einflusses, den Poldermans einst hatte. Der gefallene niederländische Kardiologe war immerhin innerhalb der europäischen Kardiologengesellschaft als Vorsitzender des Leitliniengremiums dafür zuständig, die Empfehlungen für die medikamentöse Behandlung vor und während der Operationen zu erstellen.

In der vorerst letzten Ausgabe dieser Leitlinien aus dem Jahre 2009 wurde die Gabe von Betablockern weiterhin empfohlen. Daher trieb viele Kardiologen die Frage um, ob sich der Nutzen der Betablocker auch dann noch nachweisen lassen würde, wenn die verfälschten Studien Poldermans aus der Fachliteratur getilgt würden.

Auf mindestens 10 000 Tote jährlich, die allein in Großbritannien verhindert werden könnten, wenn auf Betablocker vor der Operation verzichtet werden würde, kamen Cole und Francis in einer Metaanalyse im Juli 2013. Im Fachblatt Heart wurde der Artikel - nachdem er während des üblichen Gutachterverfahren für gut befunden wurde - veröffentlicht. Der Begutachtungsprozess muss betont werden; er ist gängige Praxis, wenn Fachartikel in guten Fachmagazinen veröffentlicht werden sollen. Erst wenn zwei oder mehr externe Fachleute keine Bedenken mehr haben und keine weiteren Analysen einfordern, erscheint der neue Beitrag.

Im Winter 2013/14 reichten Cole und Francis keinen Fachartikel, sondern einen Meinungsbeitrag beim European Heart Journal ein, dessen Chefredakteur Thomas Lüscher ist. Damit diese Art Texte in Fachzeitschriften erscheinen können, werden sie zumeist nicht von Fachleuten begutachtet. "Ein Mitarbeiter unserer Zeitschrift hat sich damals wohl gedacht: Das ist ein Text von zwei Professoren des renommierten Imperial College aus London, der gehört ins Blatt, und schon stand der Beitrag online", sagt Lüscher heute.

Als er den Beitrag sah, erschrak der Schweizer Kardiologe. Hochgerechnet auf ganz Europa und über einen Zeitraum von fünf Jahren kamen Cole und Francis auf äußerst bedrohliche Szenarien. Mehr als 800 000 Todesopfer durch die falsche Betablockergabe extrapolierten sie aus den britischen Daten. Zudem sind Europas Herzmediziner in dem Text mit Massenmördern wie Pol Pot oder Idi Amin verglichen worden. Das sagt zumindest Thomas Lüscher. "Das geht doch nicht, das ist geschmacklos und zynisch gegenüber den Opfern", empört sich der Kardiologe. "Auch ein Professor kann sich nicht alles erlauben."

Nachprüfen lässt sich das nicht, denn nachdem der Beitrag Ende Januar im European Heart Journal erschienen war, zog Lüscher den Text binnen weniger als 48 Stunden zurück. "In einem Gebiet, in dem so viel Unsicherheit herrscht, kann man viel Schaden anrichten", begründet der Zürcher Kardiologe die Entfernung des Textes von der Homepage. "Stellen Sie sich vor: Nachher setzt ein Patient nach dem Infarkt die Betablocker ab und stirbt. Und das alles, weil er gehört hat, dass die irgendwie schädlich sind."

Cole und Francis haben sich auf SZ-Anfrage bisher nicht geäußert. Zitiert werden sie in einem britischen Blog von Larry Husten, in dem sie sich amüsiert darüber geben, dass ihnen "nicht bewusst war, dass ihr Artikel auch wissenschaftliche Aussagen enthielt" - mit dieser Begründung hatte Lüscher den Beitrag zurückgezogen und angekündigt, dass er zunächst begutachtet werden müsse, bevor er eventuell wieder erscheint.

Für Cole und Francis steht "das Vertrauen in die klinische Forschung und der Nutzen für Patienten" im Zentrum ihres Tuns. Lüscher argumentiert ganz ähnlich und wirft den beiden Briten vor, "auf dem Ablehnungs-Trip" zu sein und reihum alles zu kritisieren, was ihnen unterkommt. "Erst waren es die Stammzellen, dann die Nierenarterienablation, jetzt die Betablocker", so Lüscher.

"Natürlich wissen wir im Moment nicht genau, ob Betablocker vor der Operation gut oder schädlich sind. Vielleicht ist es schlicht eine Frage der Dosis. Das ist natürlich ein Dilemma für uns wie für die Patienten, das muss selbstverständlich diskutiert werden, und am Besten wäre eine neue, gründliche Studie - aber Panik zu machen, das ist unverantwortlich."

Vielleicht ist auch die Kritik eine Frage der Dosis. Vor allem aber ist es höchste Zeit, dass die Kardiologenvereinigungen erklären, wie sie die Betablockergabe derzeit einschätzen. Poldermans wurde Ende 2011 gefeuert. Es ist schwer zu verstehen, warum Fachverbände so lange brauchen, bis sie ihren ärztlichen Kollegen und den Patienten vermitteln, was aus ihrer Sicht der Stand des Wissens ist - und was sie noch nicht wissen.

© SZ vom 03.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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