Berührungen:Nervös durch Streicheln

Neben Kuschelpartys gibt es jetzt auch Rauftreffs. Das ist womöglich weniger abwegig als es klingt. Nicht jeder Mensch mag sanfte Berührungen, manche wollen kräftig in den Arm genommen werden. Neue Erkenntnisse über die Wirkungen von Berührungen.

Von Werner Bartens

Ein bisschen umständlich sieht es aus, wenn sich Temple Grandin ihre Streicheleinheiten abholt. Die resolute Dame ist weit über 60, trotzdem kriecht sie regelmäßig auf allen Vieren in einen selbst gezimmerten Kasten aus Holz. Mindestens einmal in der Woche macht sie das noch heute. "The big squeeze" steht auf der Vorrichtung - "das große Drücken" oder "die kräftige Umarmung" müsste man den Titel wohl übersetzen, den sie auf ein kleines Emaille-Schild an der Holzkiste hat gravieren lassen.

Den Druck, mit dem die Polster innerhalb des Holzkastens ihren Körper in die Mangel nehmen, kann Grandin mit der Hand steuern. "Da bleibe ich zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde drin, danach bin ich entspannter und fühle mich angenehm geborgen", sagt sie. "Früher wollten die Lehrer und meine Mutter mir das Ding wegnehmen, weil sie dachten, ich bin verrückt. Aber ich war so süchtig nach diesem Gefühl - ich wollte meine Maschine nie wieder hergeben", erzählt sie in einer BBC-Dokumentation.

Sie wollte von der Maschine ganz stark gedrückt werden, fast bis es wehtat

Grandin ist Autistin. Sie verhielt sich auffällig als Kind. Die ersten Wörter sprach sie erst, als sie fast vier Jahre alt war, sie lachte nicht, weinte nicht, ließ sich nicht anfassen, beschmierte die Wände mit Kot. Ärzte vermuteten einen Hirnschaden bei dem kleinen Mädchen. In den 1950er-Jahren - Grandin wurde 1947 geboren - gab es nicht mal eine Diagnose für ihre Auffälligkeit. Gegen den Rat der Doktoren gaben ihre Eltern sie nicht in ein Heim, sondern ließen sie von Privatlehrern unterrichten. Später studierte die eigenwillige junge Frau und machte sogar ihren Doktor. Mittlerweile ist sie seit vielen Jahren Dozentin an der Universität Colorado und gilt als weltweit führende Expertin für die Haltung von Tieren, besonders von Rindern.

Als Achtjährige sah Grandin auf der Ranch ihrer Tante, wie Rinder sich spontan beruhigten, als sie zum Impfen in eine Vorrichtung mussten, in der sie seitlich gedrückt und fixiert wurden. Daraufhin krabbelte das Mädchen selbst hinein - und genoss es. Anfangs wollte Grandin von der Maschine ganz stark gedrückt werden, sodass es fast schon wehtat. Sie wollte Halt spüren. Berührungen von anderen Menschen konnte sie hingegen überhaupt nicht ertragen. Selbst auf Kleidung reagierte sie extrem empfindlich, besonders bei der Unterwäsche. Neue Hemden oder Blusen wusch sie zehnmal, so lange, bis sie weicher waren und nicht mehr auf der Haut kratzten.

Nach und nach stellte sie ihre Umarmungsmaschine auf sanfteren Druck ein. "Die Maschine macht mich zu einem angenehmeren Menschen. Ohne sie wäre ich schroff und kalt", ist Grandin überzeugt. "Ich brauchte diese körperliche Erfahrung, um überhaupt Nähe empfinden zu können." Grandin weiß mittlerweile, was ihr guttut.

"Inzwischen hat die Wissenschaft zeigen können, wie wichtig der Druck ist, mit dem wir berührt werden, und welche unterschiedlichen Auswirkungen das hat", sagt der Psychologe Dougal Hare von der Uni Manchester. Demnach führen leichte, zarte Berührungen mit nur sanftem Druck dazu, dass wir aufgeregt sind und im Körper eine Art Stressreaktion abläuft: Herzschlag, Blutdruck und Atemfrequenz steigen, weil das sympathische Nervensystem aktiviert wird. Das Stresshormon Kortisol wird vermehrt ausgeschüttet. Es befeuert die Kampf- und Fluchtreaktion.

Es mangelt uns an Handgreiflichkeiten

Kräftiger Druck bewirkt hingegen das Gegenteil. Er beruhigt und senkt die Stressantwort des Körpers; das parasympathische Nervensystem überwiegt. Der Blutdruck sinkt, der Puls ebenfalls. Andere Körperfunktionen verlangsamen sich auch. Inzwischen gibt es sogar Hinweise dafür, dass starker Druck ("deep touch") bei psychischen Leiden wie Depressionen hilfreich ist und die Angst lindert, wie Seelenärzte kürzlich zeigen konnten (Journal of Psychiatric Practice; Bd. 20, S. 71, 2014).

Wer keine Umarmungsmaschine wie Temple Grandin und auch keinen geeigneten Partner zur Hand hat, aber wieder mal so richtig gedrückt werden will, steht vor der Wahl: Auf eine der in Mode gekommenen Kuschelpartys gehen oder zum Gaudi-Raufen? Zarte Streicheleinheiten oder handfeste Rangeleien?

Im Angebot hat die Berührungsindustrie mittlerweile beides, denn die Nachfrage nach mehr Körperkontakt ist enorm. Regelmäßig geben etwa die Hälfte der Deutschen an, dass sie sich nach Berührungen sehnen. Nur: Woher nehmen in einer Gesellschaft, in der es 40 Prozent Single-Haushalte gibt und auch Menschen mit Partner oft nicht die Berührungen bekommen, die sie bräuchten?

Eigentlich ist die Diagnose ziemlich zutreffend: "Der Mensch ist nicht nur ein geistiges, sondern auch ein körperliches, emotionales und soziales Wesen", schreibt der selbst ernannte "Kuschelmeister", der in und um München "Kuschelpartys" für diverse Zielgruppen organisiert. "Und er hat entsprechende Bedürfnisse, die er in unserer Gesellschaft häufig nicht oder nur sehr oberflächlich befriedigen kann. Absichtsloses Kuscheln unter qualifizierter Anleitung kann dem so entstehenden Mangel entgegenwirken."

Kuschelenergie - so nennen die Veranstalter das, was während der Treffen entsteht. Wildfremde Menschen finden sich zusammen, nennen sich allenfalls beim Vornamen und nach einer Aufwärmphase fassen sie sich an. Erotische Berührungen und Sex sind tabu bei diesen Events. Alle sind leger und bequem gekleidet, und der Körperkontakt soll einfach nur guttun und glücklich machen.

Glaubt man den Teilnehmern, finden sie auf derartigen Veranstaltungen endlich das, was sie im Alltag so vermissen: Nähe, ohne bedrängt zu werden. Sich einfach anschmiegen können, ohne dass mehr daraus wird. Man lehnt sich Rücken an Rücken und setzt sich in den Schoß des anderen, manchmal hintereinander wie bei Kindern, die Eisenbahn spielen. Zum Schluss legen sich alle auf das Matratzenlager und streicheln beim Gemeinschaftskuscheln drauflos. Vorher duschen ist erwünscht, aufdringliche Parfums sind es nicht. Wenn möglich, sollen die Teilnehmer "absichtslos" kommen, schreibt ein Anbieter von Kuschelpartys. Aber was heißt das schon, denn eine Absicht verfolgen ja alle hier: unbedingt angefasst zu werden.

Gab es anfangs nur Treffen für sanfte Berührungen, finden sich jetzt auch handfeste Zusammenkünfte im Angebot, etwa das Gaudi-Raufen. Es geht also nicht nur um streichelnde Berührungen, auch an zünftigen Handgreiflichkeiten besteht offenbar Mangel. "Normalerweise ist der körperliche Umgang ja eher distanziert", berichtet eine Teilnehmerin von ihren Erfahrungen beim "Rauftreff" in der Nähe Münchens. "Aber hier kann ich meine Kraft nach außen bringen. Ich darf dabei auch laut sein und meine Anstrengung und meine Gefühle zum Ausdruck bringen."

Wenn Kinder nicht gestreichelt werden wollen

Menschen schätzen unterschiedliche Formen der Berührung. Das ist schon bei kleinen Kindern zu spüren. Manche wollen ganz fest in den Arm genommen werden, andere lieben es hingegen, sanft gestreichelt zu werden. Wiederum andere brauchen wenig Kontakt, ohne dass sie deswegen gefühlskalt wären. Und manches Kind mag am liebsten ständig gestreichelt werden. "Es gibt Cuddler und Nicht-Cuddler", sagt Florian Heinen, Chefarzt für Neuropädiatrie und kindliche Entwicklung am Haunerschen Kinderspital der Uni München. "Die einen kuscheln viel und gerne, andere brauchen das nicht so, ohne dass daraus auf ihren Charakter oder ihre Entwicklung geschlossen werden könnte."

Der Haut-zu-Haut-Kontakt stimuliert auch emotionale und hormonelle Reaktionen

Bei Erwachsenen und in Liebesdingen verhält es sich nicht anders. Jeder Mensch hat andere Vorlieben und Körperregionen, die bei ihm empfindlich sind und an denen sich besondere Wonnen auslösen lassen. Spezielle Tastkörperchen überall im Körper melden über verschieden schnell leitende Nervenbahnen an das Gehirn, ob wir behutsam oder heftig berührt werden, ob wir mit etwas Weichem oder Hartem Kontakt haben. Forscher sprechen inzwischen davon, dass der Tastsinn nicht nur taktile Reize von außen an das Gehirn weiterleitet, sondern auch der "affektiven Berührung" dient, das heißt, über Haut-zu-Hautkontakt emotionale, hormonelle und andere Reaktionen im Körper stimuliert.

Während besonders schnell leitende Nervenfasern rasch Schmerzreize, Hitze und Druck weiterleiten, sodass die Hand sofort von der Herdplatte gezogen werden kann, gibt es spezielle Bahnen, die "soziale" Berührungseindrücke langsam weiterleiten, wie Forscher in diesem Frühjahr im Fachblatt Neuron gezeigt haben (Bd. 82, S. 737, 2014). So als ob sie sich Zeit lassen, besondere Gefühle in aller Ruhe ankommen zu lassen.

Über die Ursachen dafür, dass Berührungen so unterschiedlich wirken, spekulieren Forscher noch. Leichter, behutsamer Körperkontakt findet ja auch beim liebevollen Austausch von Zärtlichkeiten statt, und dass Blutdruck und Puls im Reizgewitter in die Höhe schnellen, ist hinlänglich bekannt. Andere Forscher vermuten hingegen, dass leichte Berührungen eher zu einer Stressreaktion führen, weil sie - aus evolutionärer Sicht - auf die Berührung von Giftspinnen, Insekten und anderem lästigen Getier hinweisen und dann höchste Alarmbereitschaft geboten ist.

Für den Hausgebrauch ist es hilfreich herauszufinden, welche Form von Berührung gefällt. Die Schweizer Psychologin Anik Debrot kam nach langjährigen Studien über die Auswirkungen von Berührungen an der Universität Fribourg jedenfalls zu dem praktischen Schluss: "Los, nehmt eure Partner in den Arm - damit tut ihr beiden von euch etwas Gutes!" Die Wissenschaft gibt für beide Formen von Berührungen ihren Segen, egal ob sanftes Streicheln oder kräftiger Druck gerade das Erwünschte ist.

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