Behandlungsfehler:Nadel in der Schulter, Wattebausch im Herzen

Rund 4000 Fälle im Jahr: Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung fordert eine Meldepflicht für ärztliche Behandlungsfehler.

Von Guido Bohsem, Berlin

Am Ende brauchte der Patient eine neue Leber, und verantwortlich dafür war sein Arzt. Die Laborwerte waren schlecht und zeigten deutlich an, wie angegriffen das Organ war. Doch der Mediziner verordnete ihm ein Präparat, von dem bekannt ist, dass es die Leber schädigt. Als der Irrtum bemerkt wurde, war es zu spät.

Ein anderer Mediziner verschrieb seinem Patienten Penicillin, obwohl bekannt war, dass er auf den Wirkstoff allergisch reagiert. Ein dritter Arzt untersuchte einen Patienten mit Rückenschmerzen im Brustbereich und Schweißausbrüchen - und übersah, dass dieser einen Herzinfarkt hatte. Ein Patient wurde nach einem Eingriff am Oberschenkelhals so schlecht im Bett platziert, dass er ein massives Druckgeschwür entwickelte. Ein Chirurg vergaß bei einer Operation an der Schultermuskulatur eine Nadel im Patienten, ein anderer bei einer Herz-OP einen Wattebausch.

Insgesamt 4064 solcher und anderer Behandlungsfehler stellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) 2015 fest. Zwei Drittel davon passierten im Krankenhaus, die übrigen in der Praxis von niedergelassenen Ärzten. Etwa 40 Prozent entstanden, weil die Mediziner sich nicht für die gebotene Behandlung entschieden. In 38 Prozent der Fälle behandelten sie richtig, machten aber einen Fehler. 205 Menschen starben, 51 konnten nur kurz vor dem Tod gerettet werden, 203 trugen schwere dauerhafte Schäden davon. Insgesamt verfasste der MDK 14 828 Gutachten, in gut 70 Prozent der Fälle hatten sich die Patienten zu Unrecht beschwert.

Bei den Zahlen muss man sich auch vor Augen halten, wie viele Behandlungen es im Gesundheitssystem insgesamt gibt. So gab es 2014 mehr als 19 Millionen Behandlungen in den Kliniken, ambulant wurde etwa 688 Millionen Mal behandelt.

Nach den Angaben des MDK ist sowohl die Zahl der eingegangenen Beschwerden als auch die der festgestellten Fehler in den vergangenen drei Jahren nur leicht gestiegen. Das von der schwarz-gelben Koalition eingeführte Patientenrechtegesetz, mit dem die Position der Betroffenen gestärkt werden sollte, zeigte also offenbar nur eine geringe Wirkung.

"Die Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs", sagte der Vize-Geschäftsführer der Dachorganisation des MDK, Stefan Gronemeyer. Schließlich handele es sich lediglich um Fälle, die dem MDK zur Prüfung vorgelegt worden seien. Wie hoch die Zahl der Behandlungsfehler insgesamt sei, lasse sich nicht feststellen. So kümmerten sich auch die Ärztekammern um Behandlungsfehler, die Haftpflichtversicherungen und die Gerichte. Eine Stelle, die alle Fehler sammele, gebe es aber nicht.

"Wegen der ungenügenden Transparenz ist die Sicherheitskultur in Deutschland noch unterentwickelt", betonte Gronemeyer. "Andere Länder sind hier weiter." Er sprach sich deshalb für eine Meldepflicht aus. So könne eine zuverlässige Datenbasis geschaffen werden. Unterstützung erhielt er von der Grünen-Gesundheitsexpertin Maria Klein-Schmeink. Sie sprach sich für ein bundesweite Überwachung durch eine unabhängige Stelle aus. Die Rechte der Patienten bei Behandlungsfehlern müssten weiter ausgebaut werden, um ihnen vor Gericht eine faire Chance einzuräumen.

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