Altern in Indien:"Wenn du alt bist, sollst du sterben"

Altern in Indien: Mitarbeiter eines Hospizes im indischen Bundesstaat Tamil Nadu haben einen alten Mann auf der Straße eingesammelt.

Mitarbeiter eines Hospizes im indischen Bundesstaat Tamil Nadu haben einen alten Mann auf der Straße eingesammelt.

(Foto: Benjamin Füglister)
  • 120 Millionen Inder sind inzwischen 60 oder älter. Bis zum Jahr 2050 werden es 320 Millionen Menschen sein.
  • Doch wer in Indien der Familie zur Last wird, steht häufig allein da.
  • Altenheime, Hospize und Menschen, die dort arbeiten wollen, fehlen.

Von Martina Merten, Coimbatore

Acht alte Frauen sitzen auf Plastikstühlen auf der Terrasse des Abhaya Sadan. Ihre farbenfrohen Saris strahlen in der Nachmittagssonne. Gleich ist es 15 Uhr. Gleich bekommen sie eine Tasse Tee, mit viel Milch. Später werden sie gemeinsam zu Abend essen, um einen kleinen Holztisch herum. Vielleicht gehen sie davor noch eine Runde um das Haus.

Abhaya Sadan, das Haus ohne Angst, wie die deutsche Übersetzung für das indische Altenheim lautet, ist ein friedlicher Ort. Es liegt etwas außerhalb des südindischen Coimbatore im Bundesstaat Tamil Nadu. Die acht Frauen, die hier leben, die meisten von ihnen ohne Papiere, hatten Glück im Unglück. Keiner wollte sie mehr. Der einen brach die Schwiegertochter im Streit das Handgelenk, der eigene Sohn kümmerte sich nicht. Eine andere lebte nach dem Tod ihres Mannes allein in Armut, die drei Kinder wollten nichts mehr von ihr wissen. Eine weitere wohnte mit ihrem Enkel zusammen. Als sie krank wurde, reichte das Geld nicht aus, um ihr zu helfen. Eine erzählt, ihr Mann habe sich vor Jahren eine neue Frau gesucht und den einzigen Sohn mitgenommen. Seitdem lebte sie allein. In Armut. Zurückgelassen. Alle acht Frauen waren in der einen oder anderen Form ihren Familien zur Last geworden. Und wer zur Last wird, nicht mehr funktioniert und nicht mehr arbeiten kann, der steht allein da.

"Wenn du alt bist, sollst du sterben, lautet die gängige Denkweise vieler Inder", erklärt T. K. Nathan, der in Coimbatore der Karl Kübel Foundation for Child and Family (KKF) als Geschäftsführer vorsitzt. Gemeinsam mit einer vor Ort tätigen Hilfsorganisation sorgt die KKF dafür, dass das 2016 gegründete Altenheim für diese acht Frauen bestehen kann. Soziale Sicherungsmechanismen in Form einer Rente, einer Krankenversicherung gibt es in Indien so gut wie nicht. "Nur 1,6 Prozent aller Älteren beziehen überhaupt Rente", sagt Mathew Cherian von Help Age India, der größten Nichtregierungsorganisation auf dem Subkontinent, die sich um die Belange alter Menschen kümmert. Und was ihnen gezahlt wird, reicht gerade zum Überleben: Fünf US-Dollar im Monat.

Ein Fünftel der indischen Bevölkerung wird im Jahr 2050 älter als 60 sein

Gemessen an der Anzahl von Menschen, die inzwischen auch in Indien alt werden, sind die 1,6 Prozent ein Tropfen auf den heißen Stein: 120 Millionen Inder haben inzwischen das Alter 60 plus erreicht. Bis zum Jahr 2050 werden es dem All India Institute of Medical Sciences (AIIMS) zufolge 320 Millionen Menschen sein. Ein Fünftel der Gesamtbevölkerung zählt dann zu den Senioren, beschreibt es A. B. Dey, Leiter des Fachbereichs Geriatrie am AIIMS. Schon heute müssen auf dem Land 66 Prozent aller Männer und 28 Prozent aller Frauen bis ins hohe Alter hinein arbeiten, um zu überleben. In den Städten sind es immerhin noch 46 Prozent der Männer und elf Prozent der Frauen, geht aus einem Bericht der indischen Regierung zum Stand der Alten hervor.

Viele alte Menschen werden wie die acht Frauen im Abhaya Sadan im häuslichen Umfeld missbraucht. Sei es durch Worte oder durch Schläge, hat Help Age India durch Umfragen herausgefunden. "Zehn Prozent der Alten sind depressiv", sagt Cherian. Altersheime wie das Abhaya Sadan sind eine Seltenheit. Derzeit sind lediglich 214 000 Menschen in Heimen untergebracht. Da die meisten davon auf Spenden angewiesen sind und nur begrenzte finanzielle Mittel haben, sind die Möglichkeiten in den Heimen eingeschränkt. Hospize für sterbende alte Menschen sind eine Rarität, sagt Father Thomas.

Father Thomas ist ein kleiner charismatischer Mann. Schlaf braucht er kaum, sagt er. Würde er mehr schlafen, hätte er ja weniger Zeit für all die Vergessenen, die an dunklen Straßenecken, staubigen Winkeln von Bahnhöfen oder vor den Toiletten größerer Krankenhäuser liegen. "Denn dort", sagt der Pfarrer, "schieben sie die Mitarbeiter der Krankenhäuser meist hin. Kranke, alte Menschen sind Aussortierte in einem Land wie Indien. Keiner wolle sie mehr haben, sagt der Geistliche. "Helfen hat im Hinduismus einen ganz anderen Stellenwert."

Todkranke Menschen liegen auf der Straße und werden von Passanten weggestoßen

Father Thomas hilft. Er hat in den vergangenen Jahren mit Spenden fünf Hospize über den Bundesstaat Tamil Nadu verteilt aufgebaut. 750 Menschen liegen dort. Jeden Tag sterben mehrere von ihnen. Psychisch Kranke liegen in dem einen Saal, die anderen in den Sälen daneben. Hier im Hospiz erhalten sie Essen und Medikamente. Sie können sich waschen und ausruhen, ohne an einem Bordstein weggestoßen zu werden. Palliativpflege gibt es in den Hospizen jedoch nicht. Sie ist zu teuer.

Altern in Indien hat viele Gesichter. Auch bei den wohlhabenden Indern ist es kein würdevoller letzter Lebensabschnitt, so erscheint es. Die erweiterte Großfamilie, einer der zentralen Pfeiler der indischen Gesellschaft über viele Jahrzehnte hinweg, bei der sich die Jungen um die Alten kümmern und diese selbstverständlich integrieren, sie sei dabei auseinanderzubrechen, erklärt Nathan von der Karl Kübel Foundation in Coimbatore. "Wir haben das westliche Modell kopiert und kommen nun mit den Folgen nicht zurecht", beschreibt es der Inder. Was er damit meint: Die Kinder der wachsenden Mittelschicht wollten selbständig leben. Häufig ließen sie ihre Eltern allein zurück. In einem Land wie Indien, in dem es an sozialen Strukturen mangelt, eine fatale Entscheidung, findet Nathan.

Pro Jahr absolvieren acht Ärzte die Weiterbildung zum Facharzt für Geriatrie - in ganz Indien

In der Klinik der Geriaterin Prabha Adhikari haben sich 20 ältere Frauen und Männer in einem Stuhlkreis versammelt. Sie alle sehen gepflegt und wohlgenährt aus. Ihre Kinder sind lange aus dem Haus, erzählen sie. Viele lebten sogar im Ausland. Die Senioren kommen täglich hierher, um Yoga zu machen, sich untereinander auszutauschen. Danach fühlten sie sich besser, sagt Kusumo, eine 63-jährige Dame. Was ihnen am meisten helfe: Sie fühlten sich im Anschluss nicht mehr so allein. Altenheime kämen für sie nicht in Frage - "dort sind Menschen unglücklich", glaubt Kusumo.

Prabha Adhikari, die das Zusammenkommen der Älteren in Mangalore ermöglicht, ist eine Pionierin auf dem Gebiet der Altersforschung. Sie hatte bis vor Kurzem eine von insgesamt sechs Professuren für Geriatrische Medizin an der Manipal-Universität in Mangalore im Bundesstaat Karnataka inne. An nur vier Universitäten in ganz Indien wird Geriatrie gelehrt. Pro Jahr absolvieren acht Ärzte die Weiterbildung zum Facharzt für Geriatrie. An die 100 Fachärzte für Innere Medizin durchlaufen ein einjähriges geriatrisches Training, erklärt Adhikari. Die Ärztekammer Indiens möchte, dass es an jeder medizinischen Hochschule des Landes einen Fachbereich für Geriatrie gibt. Das Hauptproblem, sagt Adhikari: Es gibt nicht ausreichend Lehrkräfte, um eigene Fachbereiche umzusetzen. Es fehlen die Trainer für die Trainer.

Es ist extrem schwierig, Pflegekräfte für Alte zu finden - auch wenn der Lohn passabel ist

Das Problem des Fachkräftemangels zieht sich durch alle Bereiche der Altenversorgung in Indien, es fehlt an Personal in Altenheimen, in den wenigen Hospizen wie denen von Father Thomas und auch in der ambulanten Pflege. Mohanraj Raj betreibt in Mangalore einen privaten ambulanten Pflegedienst. Derzeit betreuen er und sein Team 50 Haushalte, Menschen also, die sich durchaus eine Pflegekraft leisten können. "Es ist für uns allerdings extrem schwierig, überhaupt Personal für die Altenpflege zu finden", sagt Raj. Bis an die äußersten Grenzen des Karnatakas muss er fahren, dorthin, wo die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist, um überhaupt Frauen zu finden, die sich um andere kümmern wollen. Viele lehnten es ab, sagt Raj, andere Menschen zu waschen und sie zu betreuen. Dabei zahle er seinen Mitarbeitern einen durchaus passablen Lohn: 14 000 Rupien pro Monat, rund 200 Euro. Darüber hinaus werden sie krankenversichert und haben einen Tag im Monat frei. Um sicherzustellen, dass die Pflegekraft auch in eine vernünftige Familie komme - also in eine, in der es nicht zu Missbrauch kommt - schaue er sich die Auftraggeber vorher genau an, sagt Raj. Was er mit Missbrauch meint: Häufig gäben die Familien der Pflegekraft nichts zu essen oder ließen sie viele andere, über die Pflege hinausgehende Arbeiten mitmachen und behandelten sie schlecht.

Auch im Abhaya Sadan ist nur eine einzige Krankenschwester für die acht Frauen zuständig. Ab und an kommt ein Arzt vorbei. Die zwei Schlafsäle und der Aufenthaltsraum sind nur spärlich ausgestattet. Dennoch strahlt das kleine Haus am Rande Coimbatores etwas Freundliches aus. Die acht Frauen sitzen am frühen Abend noch immer auf ihren Plastikstühlen. Mancher fällt das Gehen sichtlich schwer. Zum Abschied wollen alle noch einmal aufstehen. Für ein Bild reihen sie sich kerzengerade aneinander. Sie sehen einen Moment lang glücklich aus.

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