Alkoholentzug:"Nur zehn Prozent der Alkoholiker kommen in Behandlung"

Wer alkoholkrank ist, bleibt oft in seiner Not allein. Wartezeiten, Papierkriege und regional unterschiedliche Regeln können den Entschluss zum Entzug ins Wanken bringen. Ein Suchtexperte über die Herausforderung, trocken zu werden.

Von Karin Janker

Karl Mann ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

Sz.de: Herr Mann, wem würden Sie zu einer Alkohol-Entzugs- und Entwöhnungs-Therapie raten?

Karl Mann: Jedem, der merkt, dass ihm sein Leben durch den Alkoholkonsum aus der Hand gleitet. Spätestens dann, wenn sich Probleme aus dem eigenen Trinkverhalten ergeben - egal, ob diese die Arbeit, die eigene Gesundheit oder das Sozialleben und die Partnerschaft betreffen.

Sz.de: Wie viele Alkoholkranke schaffen den Schritt und machen einen Entzug?

Mann: Wir haben eine Behandlungslücke von etwa 90 Prozent, das heißt es kommen überhaupt nur 10 Prozent der Alkoholkranken in Behandlung. Viele fühlen sich nicht bereit, weil sie das Ziel, abstinent zu leben, für unrealistisch oder zu hoch halten.

Sz.de: Liegt es nur am Alkoholkranken? Angenommen ein Betroffener entschließt sich zum Entzug. Wie lange dauert es dann, bis er tatsächlich behandelt wird?

Mann: Genau hier liegt das Problem. Auch wenn sich ein Alkoholkranker dazu durchgerungen hat, sich in Behandlung zu begeben und die körperliche Entgiftung recht schnell geht, dauert es noch einmal etwa vier Wochen, bis er dann mit der psychologischen Entzugstherapie beginnen kann. In dieser Wartezeit kann der Vorsatz wieder dahin sein. Daran schließt sich die Reha, also die langfristige Entwöhnungstherapie an. Doch sie ist mit einigem Papierkrieg verbunden. Hier müssen erst einmal Berichte geschrieben und Maßnahmen beantragt werden, diese Bürokratie macht es nicht leichter.

Sz.de: Wer kommt für den Entzug und die anschließende Entwöhnung auf?

Mann: Entgiftung und Entzug bezahlen die Krankenversicherungen, die Entwöhnung ist dagegen eine Reha-Maßnahme und muss deshalb bei der Rentenversicherung beantragt werden. Bei der Entzugstherapie gibt es außerdem regionale Unterschiede. Während die Krankenkassen in Bayern und Baden-Württemberg einen dreiwöchigen Entzug bezahlen, kommen in Berlin die Kassen nur für sieben Tage auf, das reicht gerade einmal für die körperliche Entgiftung.

Sz.de: Alkoholismus kann genetische Ursachen haben. Gibt es Unterschiede im Erfolg einer Therapie - je nachdem, ob jemand Verwandte hatte, die ebenfalls alkoholkrank waren oder die Abhängigkeit durch äußere Einflüsse hervorgerufen wurde?

Mann: Nein, da können wir keine Unterschiede erkennen. Wenn jemand Einsicht zeigt und einen festen Entschluss gefasst hat, ist die Erfolgsrate gleich hoch - egal ob der Alkoholismus genetisch, durch die Umwelt oder durch beides bedingt ist.

Sz.de: Kann jemand, der fest entschlossen ist, es denn auch alleine schaffen, trocken zu werden?

Mann: Wenn der Vorsatz klar ist und die Umweltbedingungen günstig sind, also auch die Angehörigen denjenigen unterstützen, dann können es 20 bis 30 Prozent auch alleine ohne eine Entzugstherapie schaffen, mit dem Trinken aufzuhören. Bei denen gelingt es dann ähnlich wie bei Rauchern, die einfach von einem Tag auf den anderen aufhören, obwohl sie schon lange süchtig sind.

Sz.de: Ist das Ziel der Therapie in jedem Fall die lebenslange Abstinenz oder gibt es die Möglichkeit, dass frühere Alkoholiker später wieder kontrolliert trinken?

Mann: Die Debatte darüber ist stark weltanschaulich geprägt. Das offizielle Therapieziel lautet Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Lebenslange Abstinenz wäre für die meisten Alkoholkranken sicherlich am besten, ist aber auch am schwersten zu erreichen. Deshalb kann eine Reduktion des Alkoholkonsums ein alternatives Therapieziel sein. Denn das kann die Lebenssituation eines Betroffenen bereits enorm verbessern.

Wenn der Rückfall kommt

Sz.de: Welche Rolle spielen Selbsthilfegruppen beim Durchhalten einer lebenslangen Abstinenz?

Mann: Auch wenn manche dieser Gruppen ein geradezu pseudoreligiöses Selbstverständnis haben, sind sie sehr erfolgreich und für die meisten eine große Hilfe. Wir sorgen deshalb in unserer Klinik dafür, dass bereits während der Therapie ein Kontakt zwischen den Patienten und den Selbsthilfegruppen aufgebaut wird.

Sz.de: Selbsthilfegruppen können bei einem Rückfall die Betroffenen auffangen. Aber wie gehen Angehörige damit um, wenn sie merken: Er oder sie fängt wieder an zu trinken?

Mann: Es ist wichtig, die Angehörigen von Anfang an in die Therapie einzubeziehen und ihnen auch zu sagen, dass Rückfälle meist zum normalen Verlauf dazugehören, das Risiko liegt bei 80 bis 90 Prozent. Das ist noch kein Versagen der Therapie oder des Patienten. Entscheidend ist aber, dass die Therapie bei einem Rückfall sofort wieder aufgenommen wird, um die Krise abzufangen.

Sz.de: Wenn ein Alkoholkranker eine Therapie erfolgreich absolviert hat und danach abstinent bleibt, wie stehen dann die Chancen, dass sich auch sein Körper wieder regeneriert?

Mann: Wir wissen inzwischen, dass sich das Gehirn relativ gut regenerieren kann, auch wenn bei den meisten das vorherige Niveau an Gehirnstruktur und -funktion nicht mehr vollkommen erreicht wird. Auch Leber und Herz können sich von den Schäden wieder ziemlich gut erholen und sogar das Risiko, an Krebs zu erkranken, sinkt wieder, wenn man abstinent lebt.

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