Aids:Flecken auf der Schleife

Aids: In Europa steigt die Zahl der HIV-Infektionen wieder an. Illustration: Stefan Dimitrov

In Europa steigt die Zahl der HIV-Infektionen wieder an. Illustration: Stefan Dimitrov

Aids hat viel von seinem Schrecken verloren und die Ersten fragen, ob die derzeitigen Safer-Sex-Empfehlungen noch zeitgemäß sind. In Europa nehmen die HIV-Infektionen wieder zu.

Von Kathrin Zinkant

Das Chefarztzimmer ist noch so eingerichtet, wie es in Krankenhäusern damals üblich war: Mit dem Charme der Achtziger in Grau und Braun, funktionell eben, statt glamourös. Wie in der Zeit, als Aids noch eine rätselhafte, unheimliche Krankheit war, die in der Öffentlichkeit Verstörung und Angst hervorrief. Als Keikawus Arastéh hier 1985 die ersten Patienten mit dem Immunschwächesyndrom Aids behandelte, war er gerade 30 Jahre alt und konnte seinen Anvertrauten wenig mehr in Aussicht stellen, als ein ärztlich betreutes Sterben.

Jetzt, im Herbst 2015, steht im Bücherregal hinter seinem Schreibtisch eine "60" aus goldener Pappe. In fünf Jahren könnte der heutige Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Infektiologie und Gastroenterologie im Berliner Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Rente gehen. Arastéh gilt als einer der profiliertesten Experten für HIV und Aids, hat hier viele Hundert Patienten behandelt.

Er hat das sogenannte Schöneberger Modell gemeinsam mit seinem Vorgänger Manfred L'age, der Berliner Aidshilfe und niedergelassen Ärzten entwickelt, das Patienten seit 1987 lückenlos ambulant und stationär versorgt - selbst wenn sie keine Krankenversicherung oder keine Papiere haben. Das ist immer noch so, trotz oder gerade wegen der Flüchtlingsströme und Finanzkrisen. Und Arastéh hat medizinischen Fortschritt in einem Tempo erlebt, von dem Kollegen aus anderen Fachgebieten nur träumen können. Arastéh hat jetzt nur noch einen Traum: "Das Ziel ist es, überflüssig zu sein." Doch allem Fortschritt zum Trotz: Es ist unwahrscheinlich, dass ihm dieser Wunsch in absehbarer Zeit erfüllt wird.

Deutschland verzeichnet heute doppelt so viele Neuinfektionen wie zur Jahrtausendwende

Zum 28. Mal wird am Dienstag, 1. Dezember, der Weltaidstag zelebriert, seit 25 Jahren begleitet von der roten Schleife als Symbol der Anteilnahme und Aufmerksamkeit für HIV und Aids, als Statement für den gemeinsamen Kampf gegen eine Seuche, die jeden angeht. Doch die Realität zeichnet dunkle Flecken auf den Red Ribbon. Zwar kann sich Deutschland damit brüsten, die niedrigsten Raten an neuen HIV-Infektionen in Europa zu verzeichnen. Im vergangenen Jahr wurden in der Bundesrepublik 3525 Menschen positiv getestet, in Frankreich ist die Quote mehr als doppelt, in Spanien ungefähr dreimal so hoch.

Nur, was hilft es, besser zu sein, wenn die Zahlen insgesamt erschreckend sind - und fast überall in Europa stark ansteigen? Wie das European Centre for Disease Prevention and Control am Donnerstag mitteilte, haben sich im vergangenen Jahr 142 000 Europäer mit dem Humanen Immundefizienz-Virus angesteckt, so viele, wie noch nie seit dem Beginn der Epidemie in den 1980er-Jahren. Die Epidemiologen betonen zwar, vor allem die osteuropäischen Staaten trügen zu der Entwicklung bei. Aber auch in Deutschland hat sich die Zahl der Diagnosen seit dem Millennium mehr als verdoppelt. Wie ist so etwas möglich?

Schattenseite der potenten Medikamente

Einen Teil der Antwort spiegelte sich vor wenigen Tagen in der öffentlichen Botschaft, welche die amerikanische Basketballlegende Earvin "Magic" Johnson an den Schauspieler Charlie Sheen richtete. Sheen hatte sich im amerikanischen Frühstücksfernsehen erstmalig zu seiner HIV-Infektion bekannt. Johnson, der selbst seit 24 Jahren positiv ist, ließ Sheen wissen, dass er dank des medizinischen Fortschritts "die Krankheit bekämpfen und ein langes Leben führen" könne.

Wie außerordentlich dieser Fortschritt ist, wird deutlich, wenn man in die Vergangenheit blickt. Als Hollywoodstar Rock Hudson seine Erkrankung 1985 öffentlich machte, gab es keine ermutigenden Worte. Wie alle HIV-Infizierten war Hudson dem Tode geweiht. Wer sich zu jener Zeit ansteckte, entwickelte früher oder später das Vollbild der Krankheit, das Acquired Immunodeficiency Syndrome, kurz Aids. Und starb an schweren, quälenden Infektionen mit normalerweise harmlosen Pilzen, Bakterien oder Viren. Aus dem Krankenhaus, in dem Hudson lag, flüchteten andere Patienten damals zu Dutzenden. Das Virus löste extreme Ängste aus.

Die Medikamente haben das komplett geändert. Das Virus lässt sich unterdrücken - jahrzehntelang und so effizient, dass der Erreger im Blut vieler Infizierter nicht mehr nachweisbar ist. Dafür ist nicht einmal eine aufwendige Therapie nötig. "Eine einzige Tablette am Tag", sagt Arastéh , und man merkt dem Arzt an, wie sehr ihn das selbst beeindruckt. Das erste Mittel, Azidothymidin oder AZT, wurde von 1987 an noch hoch dosiert im Vierstundentakt verabreicht, mit geringem Erfolg. Die Nebenwirkungen waren so stark, dass viele Patienten die Behandlung abbrachen. In den 1990er-Jahren kamen weitere Arzneien auf den Markt, die weniger Nebenwirkungen hatten. Den Ausbruch des Vollbilds Aids konnten sie aber nur verzögern, nicht verhindern. Das schaffte erst die HAART, die sogenannte hochaktive antiretrovirale Therapie mit mehreren Wirkstoffen, die seit 1996 Standard ist. Für die meisten Zusammenstellungen gibt es inzwischen fertige Kombinationspräparate. Die eine Tablette, von der Arastéh spricht.

Doch so glücklich dieser Fortschritt ist, so groß sind auch die Schattenseiten. Da ist vor allem die Vorstellung, HIV lasse sich medizinisch ausblenden, die eine tägliche Tablette könne den Körper wieder komplett auf Normal zurücksetzen. Ein fataler Trugschluss: "Mit der Therapie verschwinden die Probleme nicht", sagt Arastéh. Das Virus, ob unterdrückt oder nicht, richtet Schaden an. So erkranken HIV-Positive doppelt so häufig an Krebs wie Negative, und sie haben ein dreimal so hohes Risiko für Herzkreislauferkrankungen. Vorsorgeuntersuchungen seien deshalb besonders wichtig, genauso wie gesundheitsbewusstes Verhalten, betont der Arzt. "Rauchen ist für diese Patienten das reine Gift."

Dazu kommt, dass die Kontrolle der Infektion auch eine Frage des Timings ist. "Zwei Studien haben uns da in den vergangenen zehn Jahren wirklich die Augen geöffnet", sagt Gerd Fätkenheuer vom Universitätsklinikum in Köln. Die erste zeigte 2005, dass Therapieunterbrechungen, die zur Entlastung der Patienten lange Zeit üblich waren, die Entwicklung von Aids beschleunigen.

Die zweite Studie wurde erst in diesem Jahr vorzeitig abgebrochen. Die Forscher hatten frühzeitig gesehen, dass ein sofortiger Therapiebeginn nach der Diagnose alternativlos ist, wenn man das Überleben der Infizierten dauerhaft sichern will. Es ist ein Paradigmenwechsel, denn in der Vergangenheit wurde of mit der Therapie gewartet, bis das Virus die sogenannten T-Zellen des Immunsystems der Patienten deutlich dezimiert hatte. Inzwischen rät auch die WHO dazu, umgehend mit der Behandlung zu beginnen, sobald das Testergebnis vorliegt - unabhängig von der Anzahl der T-Zellen.

An beiden Entwicklungen lässt sich klar ablesen, dass es bei HIV noch immer um Leben oder Tod geht, auch wenn die tödlichen Aidserkrankungen heute nicht mehr so oft auftreten. Doch es gibt sie noch immer: Das Robert-Koch-Institut zählt jährlich etwa 800 Fälle von Aids, insgesamt sind seit der Beginn der Epidemie etwa 10 000 Bundesbürger durch die Krankheit gestorben. Wie viele Menschen tatsächlich Aids bekommen, weiß jedoch niemand genau. Noch immer wird die Erkrankung übersehen oder auch verborgen.

Weshalb die rote Schleife eigentlich wieder wichtig werden müsste: Rechtzeitige Diagnosen und die Bereitschaft, sich frühzeitig in Therapie zu begeben, hängen auch vom Bewusstsein in der Bevölkerung ab. Geschaffen werden kann es nur durch konsequente Information. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BZgA konzentriert sich dazu auf die "Mach's mit"-Plakatkampagne, die für den Gebrauch von Kondomen wirbt. Ein zweiter Schwerpunkt ist die gesellschaftliche Akzeptanz. So sollten sich gesunde Bürger im vergangenen Jahr zum Beispiel fragen, ob sie denn mit einem HIV-Positiven in die Kantine gehen würden. Auch 2015 heißt die Kampagne "positiv zusammen leben". Gesellschaftliche Akzeptanz zu fördern, ist gewiss nicht verkehrt. Aber ist sie beim Thema HIV wirklich noch das entscheidende Problem?

Die Empirie sagt etwas anderes. In einer repräsentativen Umfrage der BZgA im vergangenen Jahr zeigten sich die Deutschen höchst aufgeschlossen gegenüber Menschen, die das Virus in sich tragen. Das gemeinsame Mittagessen? Kein Problem. Der HIV-positive Arzt? Wird konsultiert. Das Brötchen vom HIV-infizierten Bäcker? Schmeckt. Die Mehrheit würde das eigene Kind auch mit infizierten Kameraden spielen lassen.

Das Kondom verliert an Zustimmung

Was die Umfrage aber ebenfalls gezeigt hat: Über die Übertragungswege und Gefahren von HIV und Aids sind gerade jüngere Menschen nicht mehr gut informiert. Sex, Blutkonserven? O. K. Die Mehrheit ist sich jedoch unsicher, ob einen HIV-Positiven zu küssen, ungefährlich ist. Es ist! Aber die gezielte Aufklärung über Kampagnen ist mit der Angst vor der Krankheit verblasst. "Seit ,Tina, watt kosten die Kondome?' ist nicht mehr viel passiert", kritisiert Arastéh. Das war vor 25 Jahren. "Die letzte Politikerin, die sich im Kampf gegen Aids noch engagiert hat, war Ulla Schmidt."

Aber nicht nur in der allgemeinen Öffentlichkeit hat sich die Aufmerksamkeit verändert. So gibt es unter Homosexuellen eine neue Bewegung: Statt für das Kondom zu werben, wendet sich ein kleiner Teil der Szene mehr oder weniger explizit gegen das Gummi. Auch in Foren wird für ein Recht auf ungeschützten Verkehr gefochten. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Den einen geht es nach eigener Aussage darum, sich gegen Bevormundung zu wehren, und der angeblichen "Schwulenfeindlichkeit" in der Gesundheitspolitik und bei den "staatlichen Sexkontrolleuren der BZgA" etwas entgegenzusetzen. So ist es zum Beispiel im Magazin Siegessäule zu lesen.

Aber in schwulen Medien werden auch konkrete Argumente für die Verzichtbarkeit des Verhütungsmittels genannt: Die Möglichkeit des sogenannten "Serosorting", bei dem vor dem Sex sichergestellt wird, dass entweder beide infiziert oder HIV-negativ sind. Die Treue eines festen Partners. Oder die Tatsache, dass ein gut therapierter, HIV-positiver Partner meistens gar nicht mehr ansteckend ist.

Es gibt Argumente für den Verzicht auf das Kondom. Eines heißt Präexpositionsprophylaxe

Aber reichen Vertrauen und der gute Glaube an die Treue aus, um das relativ sichere Kondom abzuschaffen - oder geht es am Ende doch nur um einen Vorwand für das "Barebacking", dem gezielt ungeschützten Sex? Die SPD-Bundestagsabgeordnete Elfi Scho-Antwerpes, die seit 1988 dem Vorstand der Kölner Aids-Hilfe angehört, kann keine solche mutwillige Abkehr vom Kondom erkennen. Vielmehr stellt sie selbst infrage, ob das alte Symbol der Aids-Bekämpfung noch alleine trägt.

"Safer Sex im Jahre 2015 bedeutet mehr, als den Gebrauch von Kondomen zu vermitteln", sagt die ehemalige Bürgermeisterin Kölns. Es gehe vielmehr darum, individuelle Präventionsstrategien zu vermitteln, die sich nach den persönlichen Bedürfnissen der Beteiligten richten. Das kann Treue sein - oder aber eine weitere, neue Strategie, die mittlerweile auch von den Experten befürwortet wird: die Präexpositionsprophylaxe, kurz PreP.

Im Grunde handelt es sich dabei um eine vorsorgliche Therapie mit einem der aktuellen Medikamente, das zwei Wirkstoffe enthält. Die Tablette wird entweder täglich eingenommen. Oder gezielt einmal vor und zweimal nach dem Verkehr. Studien an Schwulen mit vielen wechselnden Partnern in westlichen Metropolen haben gezeigt, dass sich die Zahl der Ansteckungen durch beide Arten der PreP massiv senken lässt, teilweise um mehr als 96 Prozent. Damit ist die Methode ähnlich wirksam wie das Kondom. Und in vielen Situationen womöglich doch die bessere Wahl. Arastéh jedenfalls hält es in manchen Umfeldern für besser, wenn stark gefährdete Personen Medikamente schlucken und Nebenwirkungen in Kauf nehmen, als wenn sie vergeblich versuchen, sich mit Kondomen zu schützen. "Das ist prinzipiell nichts anderes als bei Frauen, die die Pille nehmen", sagt der Arzt.

Fätkenheuer hingegen hat seine Zweifel. "Wir wissen noch nicht, was passiert, wenn wir die Prophylaxe breit im Feld anwenden." Der Infektiologe sagt das auch mit Blick auf Afrika, dem Kontinent mit dem nach wie vor massivsten HIV-Problem weltweit. 70 Prozent aller neuen Infektionen treten südlich der Sahara auf. Die Erfolge der PreP konnten hier nicht wiederholt werden. Zwar steigt dafür die Zahl der Patienten, die Medikamente erhalten. Aber die Erfolge sind fragil und Modellrechnungen malen schon unter optimistischen Annahmen ein düsteres Bild für die globale Aidsepidemie.

Insgesamt bleibt die Lage in Afrika sehr ernst, und auch das geht in einer globalisierten Welt nicht nur die Afrikaner an. "Es sieht nur so aus, als hätten wir alles im Griff", sagt Gerd Fätkenheuer. "Aber mit den derzeitigen Anstrengungen werden wir weder die globale Epidemie unter Kontrolle bekommen, noch das Virus hier in Deutschland loswerden."

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