Schreibaby:Die schlimmste Zeit im Leben der Eltern

Schreibaby

Die Eltern fühlen sich zunehmend hilflos, wenn das Baby immer schreit. Gefährlich wird es, wenn sie Aggressionen entwickeln.

(Foto: Stephan Rumpf)

Das Baby brüllt permanent. Die Eltern fragen sich: Machen wir etwas falsch? Ist unser Kind lebenslang so sensibel? Und sind unsere schwer erträglichen Gefühle normal? Kinderärztin Margret Ziegler kennt die Antworten - und Hilfen für die Familie.

Interview: Sarina Pfauth

Das Gesichtchen rot, die Fäuste geballt, die Stimme schrill und verzweifelt - wenn Babys weinen, ist das für die Eltern immer belastend. Wenn Kinder aber kaum mehr aufhören mit dem Schreien, kommen viele Mütter und Väter an ihre physischen und psychischen Grenzen. Was tun, wenn man ein Schreibaby hat? Ein Gespräch mit der Kinderärztin und Psychotherapeutin Margret Ziegler. Sie ist Ärztliche Leiterin der Münchner Sprechstunde für Schreibabys am kbo-Kinderzentrum. Sie berät und begleitet Eltern von Babys, die exzessiv schreien, sucht nach den Ursachen - und kann oft helfen.

Süddeutsche.de: Warum schreien manche Babys mehr als andere?

Margret Ziegler: Manche Kinder bringen mehr Unruhe mit als andere, sind leichter irritierbar. Andere Babys sind zu wach, um genügend Schlaf zu bekommen. Fast alle Schreibabys sind in der Schlaforganisation unreifer als andere Kinder. Sie schlafen in den ersten drei bis vier Monaten vor allem am Tag zu wenig und schreien deshalb auch vermehrt.

Süddeutsche.de: Der Weg zu weniger Schreien ist also einfach mehr Schlaf?

Margret Ziegler: Genau. Ein wichtiger Ansatzpunkt in der Schreibaby-Sprechstunde ist, dass das Kind am Tag mehr Schlaf bekommt. Da müssen die Eltern aber gerade am Anfang noch viel helfen - mit Herumtragen, Abdunkeln, Spazierengehen oder Pucken, also fest in eine Decke wickeln. Schreibabys brauchen Unterstützung, um einschlafen zu können.

Süddeutsche.de: Muss ich mir als Mutter oder Vater Sorgen machen, wenn mein Kind so viel schreit?

Margret Ziegler: Selbstverständlich muss das Baby vom Kinderarzt untersucht werden, vor allem wenn das Kind plötzlich vermehrt schreit, damit organische Ursachen ausgeschlossen werden können. Meist können die Familien aber unbesorgt sein: Etwa 20 Prozent aller Babys schreien in den ersten drei Monaten viel und unerklärlich. Das geht in der Regel vorbei. Tritt dann aber keine Besserung ein, sollte eine weitere Abklärung und Beratung erfolgen.

Süddeutsche.de: Wieviel Schreien ist denn normal?

Margret Ziegler: Nach der bekanntesten Definition, der "Dreierregel" des Amerikaners Morris Wessel, spricht man von exzessivem Schreien, wenn das Kind mindestens drei Stunden am Tag, mehr als drei Tage in der Woche und länger als drei Wochen schreit. Für unsere Behandlung ist jedoch der Belastungsgrad der Eltern eher ausschlaggebend als die Zahl der Schreistunden. Typisch für Schreibabys ist, dass sie sich nicht beruhigen lassen. Andere Kinder schreien auch, wenn sie hungrig sind, ihnen kalt ist, sie müde sind oder ein Bedürfnis nach Nähe zur Mutter haben. Sie lassen sich in der Regel aber schnell beruhigen. Schreibabys hingegen nicht.

Wie fühlt sich ein schreiendes Baby?

Süddeutsche.de: Wie fühlt sich das Schreien für die Eltern an?

Margret Ziegler: Für die Eltern ist es immer sehr irritierend, dass sie ihr Kind nicht beruhigen können. Man denkt: "Das muss eine Mutter doch können!" Das Schreien macht die Eltern im Umgang mit dem Kind häufig hilflos, sie fühlen sich dem ohnmächtig ausgesetzt. Abhängig von der Unterstützung in der Familie und der psychischen Verfassung der Mutter kann das zu Depressionen führen, vor allem aber zu einer massiven Erschöpfung der Mutter, der natürlich auch der Schlaf fehlt. Das Schreien kann Konflikte in der Partnerschaft und den Herkunftsfamilien verschärfen. Es ist für die Eltern eine sehr schwierige Zeit. Viele von ihnen sagen rückblickend, dass es die schlimmste Zeit in ihrem Leben war.

Süddeutsche.de: Gibt es Erkenntnisse darüber, wie sich die Babys fühlen, die so viel schreien?

Margret Ziegler: Man kann schon sagen: Ein Baby schreit nicht ohne Grund. Das Schreien ist eine Äußerung dafür, dass irgendetwas nicht stimmt - es hat Hunger, ist müde, fühlt sich unwohl. Aber das Weinen ist in der Regel nicht mit den Emotionen verbunden, die wir empfinden, wenn wir so außer uns sind. Wahrscheinlich ist das Kind nicht furchtbar unglücklich und traurig. Es ist schlicht in einem Zustand, in dem es nicht anders kann: Wenn das Baby nicht entspannt und ausgeglichen sein kann, wenn es nicht schlafen kann, dann hat es eben nicht so viele Möglichkeiten, sich zu äußern. Es kann dann halt nur schreien.

Süddeutsche.de: Sind Schreibabys auch später besonders emotionale oder sensible Menschen?

Margret Ziegler: Nein, das kann man nicht generell sagen. Natürlich gibt es welche, die später auch sensibler und irritierbarer bleiben. Aber die meisten entwickeln sich zu aktiven, sehr interessierten und völlig gesunden Kindern. Wenn das exzessive Schreien über den 4. Lebensmonat weiter besteht, kann in einzelnen Fällen die psychische Entwicklung des Kindes beeinträchtigt sein.

Süddeutsche.de: Machen die Eltern etwas falsch, wenn ihr Kind so viel weint?

Margret Ziegler: Die Eltern haben immer diese Sorge, und fast alle haben Schuldgefühle, weil sie nicht schaffen, was alle anderen scheinbar spielend hinbekommen. Aber das Kind bringt die erhöhte Irritabilität schon mit. Daran sind nicht die Eltern schuld. Es gibt jedoch auch eine kleine Gruppe von Müttern und Vätern, die viel Engagement zeigen, ihr Kind schon früh zu fördern und deshalb mit einem wenige Wochen alten Baby viele Kurse besuchen, von Babyschwimmen bis Krabbelgruppe, und damit ihr Kind überfordern.

Süddeutsche.de: Was ist falsch daran?

Wenn Eltern zu viel Engagement zeigen

Margret Ziegler: Das ist für Babys in diesem Alter immer zu viel, manche tolerieren es nur etwas besser. In den ersten drei Monaten muss sich ein Kind hauptsächlich an die Welt außerhalb des Mutterleibs gewöhnen, mit seinen Eltern und direkten Bezugspersonen vertraut werden, einen Tagesrhythmus finden und lernen, mit den vielen Sinneseindrücken fertig zu werden. Wir sagen: Es muss lernen, sich selbst zu regulieren. Das ist seine Hauptaufgabe - und nicht schon irgendwelche Lernprogramme.

Süddeutsche.de: An welchem Punkt sollte man sich Hilfe von außen suchen?

Margret Ziegler: Wenn man merkt, dass man an seine Belastungsgrenze kommt und schwer erschöpft ist. Wenn man nicht mal mehr Kraft hat, mit dem Kind zu lachen oder zu spielen, wenn es selbst gut drauf ist. Wenn man merkt, dass die Beziehung zum Kind kippt und die Gefühle ambivalent werden. Manche Eltern berichten uns, dass sie wütend auf ihr Kind werden, wenn es stundelang schreit. In einer solchen Situation empfehlen wir, das Baby abzulegen, eventuell auch den Raum zu verlassen und erstmal selbst zur Ruhe zu kommen.

Süddeutsche.de: Warum?

Margret Ziegler: Zum einen überträgt sich die eigene Unruhe auf das Baby, zum anderen besteht die Gefahr, dass Eltern ihr Kind in dieser Wut schütteln oder anschreien. Insbesondere das Schütteln eines Babys kann schwere Folgen für das Kind haben. Ich empfehle nicht, Babys sich selbst zu überlassen, wenn sie schreien, aber wenn man gar nicht mehr kann, dann schadet es dem Kind nicht, wenn es kurz alleine weint. Das ist dann aber auch der Zeitpunkt, an dem man unbedingt zu einer Beratungsstelle gehen sollte. Abgesehen davon sollten sich Familien mit einem Schreibaby auf alle Fälle Unterstützung im Alltag suchen, sei es, dass mal jemand mit dem Kind spazieren geht oder eine Mahlzeit vorbei bringt.

Süddeutsche.de: Wann wird es besser?

Margret Ziegler: In der Regel mit dem ersten Reifungsschub der Kinder, also mit zwei bis vier Monaten. Wobei die Eltern sagen, dass es nicht pünktlich nach einem Viertel Jahr vorbei ist mit dem Schreien. Aber man kann dann meistens sagen: die guten Tage werden häufiger, und die schlechten werden weniger.

Hilfe finden Eltern von Schreibabys bei ihrem Kinderarzt, Erziehungsberatungsstellen und Schreibabyambulanzen. Eine Auflistung von Beratungsstellen in Deutschland, Österreich und der Schweiz finden Sie hier. Für Bayern hat das Sozialministerium eine Liste von Beratungsangeboten für Familien mit Schreibabys erstellt.

Mehr zum Umgang mit dem Baby erfahren Sie in unserem Ratgeber.

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