Organspende-Skandal:Mit welchen Tricks Chirurgen an Spenderorgane gelangen

Ärzte fordern mehr Sanktionen, um weitere Betrügereien in der Organspende zu verhindern. Viele Machenschaften von Medizinern und Kliniken spielen sich in einem schwer zu fassenden Graubereich ab - und Transplantationschirurgie ist in vielen Häusern ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Über die Manipulationsmöglichkeiten in der Transplantationsmedizin.

Nina von Hardenberg und Christina Berndt

Es gibt Momente, da wünscht sich wohl jeder Arzt, die Regeln wären weniger streng. Vor wenigen Wochen zum Beispiel entnahm ein Chirurgenteam im Münchner Universitätsklinikum Großhadern einer toten Spenderin Organe. Zur gleichen Zeit lag auf der Intensivstation des Hauses eine Frau, die eines der Organe benötigt hätte. Karl-Walter Jauch, Direktor der chirurgischen Klinik Großhadern, wusste das. Die Organe aber wurden nach Norden geschickt, wie von Eurotransplant angewiesen. Die Patientin in Großhadern starb einen Tag später. "Natürlich setzt einem das zu", sagt Jauch. Der Mediziner ist seit 30 Jahren im Geschäft. Er kennt die Regeln. "Man muss über den einzelnen Patienten hinwegdenken", sagt er.

Transplantationsmediziner sollen schärfer kontrolliert werden

Transplantationsmediziner sollen künftig stärker kontrolliert werden.

(Foto: AFP)

Ohne Regeln geht es nicht in der Transplantationsmedizin, in der es immer um Leben oder Tod geht und um die Verteilung eines knappen Guts. Die Regeln sollen garantieren, dass gerecht verteilt wird. Jeder der 12.000 Deutschen, die auf ein Organ warten, soll die gleichen Chancen haben, auch wenn es insgesamt viel zu wenig Organe gibt.

Damit möglichst vielen Patienten geholfen werden kann, hat sich Deutschland mit Österreich, Slowenien, Kroatien und den Benelux-Ländern in der Organvermittlungsstelle Eurotransplant zusammengeschlossen. Die Stiftung führt eine gemeinsame Warteliste für alle Länder und teilt die gemeldeten Spenderorgane jeweils einem Patienten zu.

Wo ein Kranker auf der Warteliste steht, hängt vor allem davon ab, wie dringend er ein neues Organ braucht, wie lange er schon wartet und wie hoch die Erfolgsaussichten einer Transplantation sind. Passt ein Organ zu einem Empfänger, informiert Eurotransplant die Klinik. Deren Chirurgen prüfen das Organ dann noch einmal genauer. Herz- und Lungenspezialisten fliegen in der Regel sogar zu der Klinik, wo der tote Spender liegt und untersuchen das Organ. Manchmal lehnen sie ab. Bei Herzen nehmen die Chirurgen der Empfänger-Klinik die Entnahme des Organs sogar meistens selbst in die Hand, denn jetzt zählt jede Minute. Zwischen der Entnahme des Herzens und der Einpflanzung dürfen maximal sechs Stunden vergehen. Bei anderen Organen ist bis zu 48 Stunden Zeit.

In diesem regulären System der Organvergabe sind die Regeln relativ klar. Wer sich darüber hinwegsetzen will, müsste Messwerte fälschen und seine Patienten somit kränker erscheinen lassen als sie sind - so wie es der angeklagte Arzt in Göttingen gemacht haben soll. Doch es gibt in Deutschland noch einen zweiten Weg, über den Organe verteilt werden: Es ist ein Weg, der etwas mehr Grauzonen hat. Unter Experten gilt er als manipulationsanfällig.

Immer wieder bietet Eurotransplant auch Organe an, bei denen keine Klink zugreift, etwa weil der Spender schon sehr alt oder krank war, die Organe also von schlechterer Qualität sind. Auch bei diesen Patienten wird zunächst versucht, sie direkt einem Patienten zu vermittlen. Eurotransplant fragt hierfür je nach Art des Organs drei bis fünf Kliniken, deren Patienten oben auf der Warteliste stehen. Wenn diese aber alle absagen, wird das Organ zur beschleunigten Vergabe freigegeben. Ziel des Verfahrens ist es, das Organ zu retten, damit es nicht verworfen werden muss. Deshalb dürfen nun alle Kliniken im Umkreis der Spende-Klinik zugreifen. Den Zuschlag bekommt, wer am schnellsten ist.

Die Vermittlung von Organen über dieses Verfahren hat zuletzt stark zugenommen. In Deutschland wurde jedes vierte Herz und mehr als jede dritte Leber so vergeben. "Das ist nicht im Sinne des Erfinders", sagt auch Axel Rahmel, der Medizinische Direktor von Eurotransplant. Oppositionspolitiker vermuten dahinter gar Manipulation.

So könnten zum Beispiel Chirurgen, die die Organe entnehmen, sie bewusst schlechtreden und sie dann, wenn kein anderes Zentrum sie haben will, am Ende selbst verpflanzen. Transplantationsmediziner weisen diesen Vorwurf allerdings entschieden zurück. Dass inzwischen so viele Organe regional vergeben werden, liege vor allem an der schlechten Qualität der Organe. "Wir transplantieren heute Organe von 85-jährigen Spendern", erklärt der Münchner Chirurg Jauch. Natürlich würden solche Organe nicht von Kranken angefragt, die ohnehin oben auf der Liste stünden und Aussicht auf ein besseres Organ hätten.

Mit Bummeln zum Spenderorgan

Bleibt aber noch ein weiterer Manipulationsverdacht: Eine Recherche der Süddeutschen Zeitung hat ergeben, dass Transplantationszentren in einigen Fällen ein ihnen für einen bestimmten Patienten angebotenes Organ als unpassend ablehnen, es dann aber später einem anderen Patienten verpflanzen.

Grafik Eurotransplant

Eurotransplant ist für die Zuteilung der Organspenden in sieben europäischen Ländern zuständig. Die Grafik zeigt den Anteil der Spender pro Land.

(Foto: SZ-Grafik)

Dies könnte bedeuten, dass Zentren die ihnen angebotenen Organe so lange zurückhalten, bis sie selbst entscheiden dürfen, wer sie bekommt. Denn ob ein Patient, dem Eurotransplant ein Organ zugeordnet hat, dieses wirklich bekommt, darüber entscheidet letztendlich sein Chirurg. Er kann eine Spenderleber, die gerade in seinem Klinikum für Frau Meyer eingetroffen ist, plötzlich als "zu schlecht für Frau Meyer" klassifizieren. Dann müsste Eurotransplant eigentlich den nächstbedürftigen passenden Empfänger suchen. Wenn sich der Chirurg aber genügend Zeit mit seiner Absage lässt, bietet Eurotransplant die Leber nur noch Kliniken in der Nähe an. Denn mit jeder Stunde, die sich eine Leber außerhalb des Körpers befindet, verliert sie an Qualität.

Hat das Zentrum lang genug gebummelt, wollen andere Zentren in der Umgebung das schon Stunden in der Kühlbox liegende Organ auch nicht mehr. In der Folge darf deshalb das Zentrum, an dem sich die Leber befindet, das Organ oft behalten. Außerdem darf es entscheiden, wen es damit beglückt. 115 der insgesamt rund 1100 Spenderlebern des Jahres 2011 sind auf diese Weise an dem Zentrum vergeben worden, das sie zunächst abgelehnt hat. Ob dies Zufall ist oder die Chirurgen dies tatsächlich im Sinn hatten, lässt sich nicht belegen. Eurotransplant ging die eigenmächtige Verwendung jedenfalls zu weit. Auf seine Anregung hin hat die Ständige Kommission Organtransplantation die Vermittlungsregeln jüngst geändert.

Warum aber sollten Kliniken und ihre Chefärzte überhaupt ein Interesse daran haben, Patienten auf hinteren Plätzen der Warteliste zu einem Organ zu verhelfen? Man muss nicht gleich an Bestechung denken, um das zu erklären. Hohe Transplantationszahlen sind wichtig für jedes Zentrum. Sie sind nicht nur gut fürs Image, sondern auch lukrativ: Denn für eine Transplantation bekommt das Klinikum leicht 150.000 Euro. "Jeder Transplantationschirurg steht unter dem wirtschaftlichen Druck seines Krankenhauses", sagt der Leberchirurg Xavier Rogiers vom Uniklinikum im belgischen Gent, der viele Jahre Chef in Hamburg war. Selbst in einem ethisch einwandfreien Haus sei die Transplantationschirurgie ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor.

Eine Verbesserung des Systems der Organvergabe müsste deshalb auch hier ansetzen: Es müsste Kliniken den Anreiz nehmen, möglichst viele Organe zu verpflanzen. Einen solchen Vorschlag hat nun die Deutsche Krankenhausgesellschaft gemacht: Anstatt wie bisher je Fall abzurechnen, sollten Zentren ein Jahresbudget erhalten.

Mediziner fordern dagegen mehr Transparenz über die Erfolge von Transplantationen. Wenn alle Zentren die Überlebensraten ihrer Patienten veröffentlichen müssten, würde stärker darauf geachtet, welcher Patient wirklich von einer Transplantation profitiert. Schlechte Organe, wie sie zuletzt so zahlreich regional vergeben werden, würden dann automatisch weniger nachgefragt, denn sie führen häufig zu schlechteren Operationsergebnissen.

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