Wohnungsnot:"Einen Mieter schmeißt man raus. Fünfzig nehmen sich ein Haus"

Ein Buch über die Geschichte der Hausbesetzung erinnert an die Auseinandersetzungen seit den 70er-Jahren.

Von Joachim Göres

Ende 1970 sollte im Frankfurter Westend ein Gründerzeitgebäude aus dem Jahr 1905 abgerissen werden, damit an dieser Stelle ein Investor ein Hochhaus bauen kann. Die Bürgerinitiative Aktionsgemeinschaft Westend wollte das verhindern und nahm Kontakt mit Menschen in der Umgebung auf, die in Notunterkünften und Eisenbahnwaggons lebten. Die Medizinerin Lelle Franz erinnert sich: "Wir sind da hin und haben den Leuten dort gesagt: 'Es gibt ein wunderschönes Haus, da stehen mehrere Wohnungen leer, und wenn ihr das riskiert, da einfach illegal reinzugehen... Also das war schon eine ganz verrückte Geschichte. Es gab ja kein Beispiel, es gab noch keine Besetzungen, nichts, wir waren die Ersten." Ein Zitat aus dem 2017 erschienenen Buch "Das ist unser Haus" über die Geschichte der Hausbesetzung.

Hausbesetzung in Hamburger Hafenstraße

Kalte Dusche für Polzisten: Hausbesetzer in Hamburg wehren sich gegen die Räumung des Gebäudes.

(Foto: dpa)

Die Organisatoren der Besetzung in der Eppsteiner Straße 47 waren Menschen aus der Mittelschicht, die Angst um ihr Viertel hatten, in dem immer mehr Mieter aus ihren alten Wohnungen von Investoren rausgeekelt wurden. Die Unterstützung für ihre Aktion war groß: Das Landesamt für Denkmalpflege setzte das "einzige Jugendstil-Eckhaus im nördlichen Westend" auf die Liste der zu schützenden Häuser, selbst bei der Polizei gab es Sympathie, die erste Besetzung in der Bundesrepublik lief gewaltlos. Die Autoren Barbara und Kai Sichtermann machen aber an vielen Beispielen deutlich, dass dies eher die Ausnahme war. In München beispielsweise galt die Direktive, jede Besetzung nach spätestens 24 Stunden aufzulösen. In den Besetzer-Hochburgen Berlin, Frankfurt, Köln und Hamburg gab es heimliche und öffentliche Besetzungen, die mal geduldet und mal nach kurzer Zeit von der Polizei geräumt wurden. Dabei schaukelte sich die Stimmung nicht selten auf beiden Seiten hoch, mit zahlreichen Verletzten als Folge.

Häuserräte warben in der Öffentlichkeit für ihre Anliegen

Die Sichtermanns lassen viele Zeitzeugen zu Wort kommen, darunter auch den ehemaligen Grünen-Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit, der in den 1970er-Jahren in einem besetzten Frankfurter Haus in einer Neuner-Wohngemeinschaft lebte. Er spricht von zwei großen Gruppen, die damals besonders aktiv waren: Junge Leute, die eine WG gründen wollten und dafür keine passende Mietwohnung fanden, sowie Migranten, deren Wohnungen abgerissen werden sollten. Wichtig waren auch gemeinschaftliche Entscheidungen als Grundlage für das Zusammenleben. Dafür bildeten sich Häuserräte, die in der Öffentlichkeit für ihre Anliegen warben. In einem Flugblatt des Frankfurter Häuserrates von 1974 heißt es: "Einen Mieter schmeißt man raus. Fünfzig nehmen sich ein Haus."

Buchcover Haus

Barbara Sichtermann, Kai Sichtermann: Das ist unser Haus. Eine Geschichte der Hausbesetzung. Aufbau-Verlag Berlin 2017, 300 Seiten, 26,95 Euro. ISBN: 978-3-351-03660-7, auch als E-book erhältlich.

Für den Wunsch, in größeren Gruppen die Trennung von Arbeit und Leben sowie die Kleinfamilie zu überwinden, boten sich als Räumlichkeiten neben leer stehenden Gründerzeitbauten besonders ehemalige Fabriken, Krankenhäuser, Kasernen und Bahngebäude an. Gleichzeitig kämpfte man so für den Erhalt des traditionellen Stadtbildes, dessen Zerstörung durch den Bau von 70er-Jahre-Wohnklötzen drohte.

Seitdem hat sich vieles verändert. Der Leerstand und damit auch die Zahl der Besetzungen ist gesunken: 1981 gab es in 153 deutschen Städten 595 Besetzungen, an denen sich knapp 13 000 Menschen beteiligten, die Zahl der heute besetzten Häuser ist sehr übersichtlich. Wurde früher der Abriss von Investoren favorisiert, geht es heute häufiger um Sanierung - auch so kann die Rendite ordentlich gesteigert werden. Gab es einst starke kommunale Wohnungsunternehmen, wurden seit den 1990ern immer mehr Areale in den Innenstädten privatisiert und der Allgemeinheit entzogen.

Ein gut lesbares Buch aus Sicht von - meist ehemaligen - Hausbesetzern, das die Konflikte in der Szene nicht verschweigt. Das Fazit der Autoren angesichts aktueller Wohnungsnot und weiter steigenden Mieten in den meisten Großstädten: "Solange das Privateigentum an Grund und Boden besteht, wird die Wohnungsfrage nicht human beantwortet werden können. Einwände, dass die Privatnutzung letztlich alternativlos sei, zählen nicht, denn die Hausbesetzer haben sehr gut funktionierende gemeinschaftliche Nutzungsmodelle entwickelt, an denen man sich orientieren kann."

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